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DIGGEN mit Bobby Fletcher & Koljah

"Das sind kei­ne Bücher, auf denen vor­ne ein "Spiegel-Bestseller"-Aufkleber ist, bei dem ich weiß, dass das Buch für Schlaue ist." – Die­ses Mal digg­ten Bob­by Flet­cher & Kol­jah aus­nahms­wei­se in ihrem Bücher- statt Plat­ten­re­gal und stell­ten uns eine Lis­te mit lite­ra­ri­schen High­lights zusammen.

Das ers­te Kon­zert, das man ohne Eltern besu­chen durf­te. Nachts allei­ne auf der Auto­bahn und den glei­chen Song immer und immer wie­der hören, weil man nicht fas­sen kann, wie gut er ist. Der Track, den man mit den Freund:innen von frü­her laut grö­lend auf jeder Par­ty mit­ge­sun­gen hat. Ver­mut­lich kennt jeder Mensch die­sen Moment: Es läuft ein bestimm­tes Lied oder Album, das einen direkt emo­tio­nal in eine Situa­ti­on zurück­ver­set­zen kann, nost­al­gisch wer­den lässt oder ein­fach nur auf­grund sei­ner Mach­art immer wie­der zum Stau­nen bringt. Und genau dar­um geht es in unse­rem For­mat "DIGGEN mit …". Wir dig­gen mit ver­schie­de­nen Protagonist:innen der Sze­ne in ihren gedank­li­chen Plat­ten­kis­ten und spre­chen über Musik, die die­se Emo­tio­nen in ihnen aus­löst. Dafür stel­len unse­re Gäs­te jeweils eine eige­ne Play­list mit Songs zusam­men, die sie bewe­gen, begeis­tern und inspirieren.

Die­ses Mal waren die Rap­per Bob­by Flet­cher und Kol­jah zu Gast – doch sie kamen aus­nahms­wei­se mit Buch- statt Musik-​Empfehlungen zu uns. Die bei­den Jugend­freun­de lesen in ihrer Frei­zeit sehr ger­ne, was viel­leicht genau­so viel mit Nerd­sein, Sam­mel­lei­den­schaft und Lie­be zum Detail zu tun hat wie die tie­fer­ge­hen­de Freu­de an Musik. Wie Kol­jah vor dem Inter­view fest­stell­te, liest man Bücher zwar in den sel­tens­ten Fäl­len vie­le Male und kennt sie auch nicht aus­wen­dig wie die liebs­ten Alben, den­noch kön­nen sie aus diver­sen Grün­den einen wich­ti­gen Platz im Leben ein­neh­men und einen ver­gleichs­wei­se in den Bann zie­hen. So stell­ten Bob­by Flet­cher & Kol­jah eine Lis­te mit ihren lite­ra­ri­schen High­lights für uns zusam­men und nah­men sich einen Abend Zeit, um aus­führ­lich dar­über zu sprechen.

Kol­jah saß dabei – wie es sich für ein ansehn­li­ches Zoom-​Meeting gehört – vor einem rie­si­gen Bücher­re­gal, wäh­rend Bob­by Flet­cher zu sei­nem Unmut sei­nes nicht zur Schau stel­len konn­te. Dafür blick­te er thea­tra­lisch mit einem Mes­ser und einem Apfel bewaff­net in die Kame­ra, um sich die frisch geschnit­te­nen Schnit­ze direkt in den Mund zu schie­ben. Umge­ben von stau­bi­gen, alten Büchern und Mes­sern: Deut­scher Rap war ver­mut­lich nie männ­li­cher – auf eine Professoren-Tweedjacken-"Der Club der toten Dichter"-Art. So auch die Bücher­aus­wahl. Ganz über­spitzt gesagt waren zer­rock­te Pun­ker, Fuß­ball und sehr vie­le Män­ner mit noch mehr Sinn­kri­sen unter ande­rem The­ma bei unse­rem Gespräch. Wir spra­chen aber auch über die tie­fe Bedeut­sam­keit, die der Natur zugrun­de lie­gen kann, den unver­öf­fent­lich­ten Song "Schwim­men mit Ulf Kirs­ten" und das Koket­tie­ren mit poli­ti­schen Refe­ren­zen in der Musik.

 

 

1. "Stoner" von John Wil­liams (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 1965)

Bob­by Flet­cher: Das ist das Buch, das ich jedem emp­feh­le, wenn ich nach einer Buch­emp­feh­lung gefragt wer­de. Es hat eigent­lich kei­ner­lei Berech­ti­gung, so gut zu sein, wie es ist. Es han­delt von dem Leben eines Eng­lisch­pro­fes­sors. Der Autor John Wil­liams war selbst Eng­lisch­pro­fes­sor und die Geschich­te dreht sich um ein Leben, das eben wie ein Leben ist. Es pas­sie­ren schon auch hier und da grö­ße­re Din­ge und es gibt zwi­schen­durch tie­fe­re Ein­schnit­te, aber eigent­lich ist es sehr direkt geschrie­ben, ohne dabei laut zu sein. Es geht um Höhen und Tie­fen, um Hoff­nung und vor allem auch Ernüch­te­rung. Aus irgend­ei­nem Grund saugt einen der Schreib­stil so rein und man möch­te wei­ter­le­sen. Es ist schwie­rig, das schmack­haft zu machen, aber wenn man es liest, ver­steht man es. Man bekommt den Zugang zum Innen­le­ben des Prot­ago­nis­ten. Es fühlt sich ein biss­chen wie eine Serie mit sehr vie­len Staf­feln und guten Cha­rak­te­ren an. Du siehst, was sie mit der Zeit alles geschafft und ver­lo­ren haben. Wenn es so etwas gibt wie das gewis­se Etwas, hat die­ser Roman es auf jeden Fall. Man merkt das auch dar­an, dass ich es anschei­nend ver­lie­hen habe und nicht mehr finde.

Kol­jah: An der Stel­le möch­te ich dar­auf hin­wei­sen, dass ich es ver­ab­scheue, Bücher zu ver­lei­hen. Ein paar Mal in mei­nem Leben habe ich das schon gemacht und gele­gent­lich habe ich sie auch wie­der­be­kom­men, aber es macht mich wirk­lich ner­vös, wenn eins mei­ner Bücher nicht bei mir ist. Ich wür­de lie­ber jeman­dem ein Buch kau­fen, als es ihm zu lei­hen. Aus irgend­ei­nem Grund ist das Ver­lei­hen von Büchern aber für vie­le eine so gän­gi­ge Pra­xis, dass es vor­aus­ge­setzt und nicht hin­ter­fragt wird. Man kennt ja die­sen Satz: "Das musst du mir mal lei­hen, wenn du es fer­tig hast." Schon im Impe­ra­tiv! Und dann muss ich das unter irgend­wel­chen faden­schei­ni­gen Aus­re­den ver­hin­dern. Es gab mal einen Rap­per namens Illoy­al, der über Jah­re ein Buch von mir hat­te und ich habe ihn regel­mä­ßig ter­ro­ri­siert, weil mich das rasend gemacht hat. Irgend­wann hat er mir das dann per Post geschickt.

Bob­by Flet­cher: Da möch­te ich dage­gen­hal­ten. Ich freue mich dar­über, dass ich das Buch nicht gefun­den habe. Denn mir hat die­ses Buch wahn­sin­nig gut gefal­len und als ich es gekauft habe, habe ich mir irgend­ei­ne scheiß Taschenbuch-​Ausgabe davon geholt. Jetzt bin ich gezwun­gen, eine her­vor­ra­gen­de, gebun­de­ne Aus­ga­be zu fin­den, weil ich es ja sonst nicht mehr in mei­nem Regal ste­hen habe.

 

2. "Arbeit und Struk­tur" von Wolf­gang Herrn­dorf (Beginn des Blogs: 2010, Erst­ver­öf­fent­li­chung: 2013)

Kol­jah: Die­ses Buch lese ich zwar aktu­ell noch, aber möch­te es jetzt schon emp­feh­len. Es wur­de mir seit Erschei­nen sehr oft ans Herz gelegt, aber auch hier bin ich Opfer einer mei­ner vie­len skur­ri­len Eigen­ar­ten: Ich leh­ne Din­ge ab, die mir emp­foh­len wer­den. Wenn ich die gan­ze Zeit höre, dass ich etwas lesen muss, habe ich kei­nen Bock mehr dar­auf und muss erst von selbst dar­auf sto­ßen. So auch hier: Wolf­gang Herrn­dorf war mir ein Begriff, aber ich hat­te nie etwas von ihm gele­sen. Begon­nen habe ich dann mit sei­nem Durch­bruch "Tschick", dem Jugend­ro­man, der auch von Fatih Akin ver­filmt wur­de. Wor­auf­hin ich auch "Arbeit und Struk­tur" begon­nen habe zu lesen. Die­ses Buch ist das Tage­buch Herrn­dorfs Hirn­tu­mor­er­kran­kung, was ziem­lich medi­zi­nisch und depri­mie­rend klingt. Ich muss aber sagen, dass es sehr wit­zig, gut geschrie­ben und beein­dru­ckend ist. Der Autor war zum Zeit­punkt der Dia­gno­se und somit auch dem Beginn sei­nes Blogs schon Schrift­stel­ler, aller­dings ein recht erfolg­lo­ser, der unter ande­rem für das Sati­re­ma­ga­zin "Tita­nic" gear­bei­tet hat. Aber in dem Moment, in dem er erfah­ren hat, dass er schon bald ster­ben wird, hat er sich gesagt: "Das, was ich jetzt brau­che, ist Arbeit und Struk­tur." Er woll­te Bücher schrei­ben und hat mit sei­ner bereits seit Jah­ren bestehen­den Jugendroman-​Idee von "Tschick" begon­nen. Durch die Tat­sa­che, dass er nicht mehr lan­ge Zeit hat, ist der Kno­ten bei ihm geplatzt. Das ist natür­lich tra­gisch, aber hat auch gro­ße Kunst her­vor­ge­bracht und es gibt trotz­dem Sze­nen, bei denen ich so sehr gelacht habe wie schon lan­ge nicht mehr. Man merkt schon, dass man da etwas Beson­de­res liest – lite­ra­risch gese­hen. Schluss­end­lich hat er, als er es gera­de noch so konn­te, sei­nem Leben selbst ein Ende gesetzt. Kurz vor­her endet auch "Arbeit und Struktur".

Bob­by Flet­cher: Ich habe das damals bei Erschei­nen des Buches gele­sen und fand die Art des Lesens durch die teils sehr kur­zen Ein­trä­ge schön. Das macht sei­ne Tages­struk­tur noch deut­li­cher. Aber das Ende war selbst­ver­ständ­lich auch nie­der­schmet­ternd. Das ist näm­lich das Pro­blem: Die­ser lus­ti­ge Schreib­stil macht, dass man noch weni­ger möch­te, dass er stirbt.

 

3. "Hun­dert Jah­re Ein­sam­keit" von Gabri­el Gar­cía Már­quez (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 1967)

Bob­by Flet­cher: "Hun­dert Jah­re Ein­sam­keit" ist ein Roman, der die Fami­li­en­ge­schich­te meh­re­rer Gene­ra­tio­nen der Buen­dí­as in Kolum­bi­en erzählt. Sie grün­den irgend­wo in Kolum­bi­en ein Dorf und leben dort vie­le Jah­re. Ich möch­te den ers­ten Satz vor­le­sen, weil er so iko­nisch ist: "Vie­le Jah­re spä­ter soll­te der Oberst Aure­lia­no Buen­día sich vor dem Erschie­ßungs­kom­man­do an jenen fer­nen Nach­mit­tag erin­nern, an dem sein Vater ihn mit­nahm, um das Eis ken­nen­zu­ler­nen." Ich weiß noch, dass ich den Satz gele­sen habe und direkt mit dem Buch anfan­gen woll­te. Das Gen­re ist magi­scher Rea­lis­mus und die­se Bil­der, die Gabri­el Gar­cía Már­quez mit Wor­ten zeich­net, haben mich immer wie­der gepackt. Es gibt zum Bei­spiel ein ganz altes Zim­mer, in dem vie­le Jah­re nie­mand mehr gewe­sen ist und ein Glas Was­ser steht, in dem ein Gebiss liegt. Aus dem Glas wach­sen ganz vie­le Pflan­zen. Ich habe das nach Lesen des Buches für mich rekre­iert, weil ich das so phä­no­me­nal fand. Es ist wirr, ein Rausch und am bes­ten liest man eine der vie­len Aus­ga­ben, in der ein Fami­li­en­stamm­baum abge­bil­det ist. Man darf aller­dings nicht in die Fal­le tap­pen, die­se gan­zen Struk­tu­ren ver­ste­hen zu wol­len. Es geht dar­um, die gan­ze Geschich­te wie einen Fie­ber­traum wahr­zu­neh­men. Nur so kann man sich auf die­se Magie, die dar­in steckt, einlassen.

Kol­jah: Wäh­rend dei­ne Kurz­re­zen­si­on zu "Stoner" mich nicht voll­ends über­zeu­gen konn­te, habe ich mir jetzt eine Notiz gemacht. Das muss ich mir mal genau­er angu­cken, das hat mich doch neu­gie­rig gemacht.

Bob­by Flet­cher: Zurecht. Voll­kom­men zurecht.

MZEE​.com: Nicht umsonst hat er dafür auch den Lite­ra­tur­no­bel­preis bekom­men. Über­haupt ist dei­ne Lis­te, Bob­by, sehr voll mit Pulitzer- und Nobelpreisträgern.

Kol­jah: Weil Bob­by Flet­cher ein­fach ein Auf­schnei­der ist und denkt, man wirkt schlau, wenn man sowas liest.

Bob­by Flet­cher: Das ist Zufall. Das sind kei­ne Bücher, auf denen vor­ne ein "Spiegel-Bestseller"-Aufkleber ist, bei dem ich weiß, dass das Buch für Schlaue ist.

Kol­jah: Noch bes­ser ist "Spiegel-​Bestseller-​Autor". Wenn du ein­mal einen Best­sel­ler geschrie­ben hast, kannst du für immer die­sen Auf­kle­ber auf dei­ne Bücher kleben.

 

4. "Rap Attack" von David Toop (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 1994)

Kol­jah: Schon seit mei­ner Kind­heit geht es mir so, dass ich mich sehr aus­gie­big mit The­men aus­ein­an­der­set­ze, die mich inter­es­sie­ren. Heu­te müs­sen es nicht mehr immer Bücher sein, ich kann auch wun­der­bar stun­den­lang von einer Wikipedia-​Seite zur nächs­ten hüp­fen. Wenn mich etwas fas­zi­niert, möch­te ich es auch durch­drin­gen. Das fängt natür­lich oft mit einer emo­tio­na­len Kom­po­nen­te an – ich habe nicht zu rap­pen ange­fan­gen, weil ich ein Buch dar­über gele­sen habe –, aber wenn die­ser Fun­ke über­ge­sprun­gen ist, möch­te ich alles dar­über wis­sen. Und so habe ich mir auch als Kind "Rap Attack" bei der Stadt­bü­che­rei am Bertha-​von-​Suttner-​Platz in Düs­sel­dorf aus­ge­lie­hen, weil ich Hip­Hop für mich ent­deckt hat­te. Ich habe näm­lich das gemacht, wovon die gan­zen Old­schoo­ler immer reden: Ich habe stu­diert, wer vor mir da war. Ich ver­mu­te, dass die­ses Buch immer noch ein Stan­dard­werk über die Anfän­ge von Rap ist, das war es damals zumin­dest. Ich glau­be, ich habe dadurch auch von der Exis­tenz von N.W.A. erfah­ren. Die­se skan­da­lö­sen Crews haben mich am meis­ten begeis­tert und N.W.A. wur­den dann sehr wich­tig für mich.

 

5. "Ver­schwen­de dei­ne Jugend" von Jür­gen Tei­pel (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 2001)

Kol­jah: Die bei­den Bücher gehö­ren eigent­lich zusam­men, wobei ich schon sagen kann, dass mir "Ver­schwen­de dei­ne Jugend" viel prä­sen­ter ist. Ich habe es sehr viel spä­ter und sogar zwei­mal gele­sen, weil es noch mal in einer ergänz­ten Ver­si­on raus­kam. Es geht um die Anfän­ge von Punk in Deutsch­land und das bedeu­tet, dass es auch ganz wesent­lich in unse­rer Hei­mat­stadt Düs­sel­dorf spielt. Dort gab es den Ratin­ger Hof, der für die Punk­be­we­gung in Deutsch­land ein zen­tra­ler Punkt war. Das Buch ist eine soge­nann­te Oral Histo­ry, also eine Mon­ta­ge aus ganz vie­len Inter­view­aus­sa­gen aller wesent­li­chen Prot­ago­nis­ten aus die­ser Zeit. Die Zita­te sind so anein­an­der­ge­baut, dass es sich anfühlt, als wür­den sie alle um ein Lager­feu­er sit­zen und einem die Geschich­te von Punk erzäh­len. Neben Hip­Hop war Punk immer mei­ne gro­ße Fas­zi­na­ti­on und sehr wich­tig für mich. Ich habe mit eini­gen Leu­ten, die in dem Buch zu Wort kom­men, spä­ter noch spre­chen kön­nen und ein paar von ihnen sagen, dass Jür­gen Tei­pel unfass­bar viel Inter­view­ma­te­ri­al ord­nen und natür­lich auch Schwer­punk­te set­zen muss­te, wobei es wohl ins­ge­samt zu gewalt­voll wirkt und an man­chen Stel­len zu kurz gegrif­fen ist. Im Gro­ßen und Gan­zen habe ich aber schon das Gefühl, dass es ganz gut ver­mit­telt, was da Ende der 70er und Anfang der 80er los war. Als ich es zur Erschei­nung gele­sen habe, war ich schon sehr punk­af­fin, aber mir haben sich dadurch vie­le Bands noch mal mehr erschlos­sen wie zum Bei­spiel Fehl­far­ben. Ich kann­te sie, aber durch das Buch wur­de mir deut­lich, wel­che Rol­le sie und im Spe­zi­el­len der Sän­ger Peter Hein, mit dem ich viel spä­ter auch einen Song mit den Anti­lo­pen gemacht habe, gespielt haben. Ich glau­be, das Buch könn­te auch Leu­te inter­es­sie­ren, die nicht so viel Ahnung von Punk oder kein Vor­wis­sen dazu haben. Es geht um Sub­kul­tur, eine Jugend­be­we­gung und die BRD in den aus­ge­hen­den 70ern, was zeit­his­to­risch schon span­nend ist.

 

6. "A Love Supre­me – The Sto­ry of John Coltrane's Signa­tu­re Album" von Ash­ley Khan (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 2002)

Bob­by Flet­cher: Die­ses Buch han­delt von der Ent­ste­hung des gleich­na­mi­gen Albums, das mein Lieblings-​Jazz-​Album ist. Ich höre sehr ger­ne Jazz und John Col­tra­ne ist, vor allem mit "A Love Supre­me", sehr prä­gend für mich gewe­sen. Er ist so span­nend, weil er ein sehr soli­des Fun­da­ment im Saxo­phon­spie­len mit­brach­te, aber im Lau­fe sei­ner Kar­rie­re immer expe­ri­men­tel­ler wur­de und irgend­wann eher spi­ri­tu­el­le Musik mach­te. Die­ses Album soll ein Gespräch mit Gott über das Saxo­phon dar­stel­len, weil Gott anschei­nend kein Eng­lisch spricht, aber Musik ver­ste­hen kann. Ich lie­be gene­rell Bücher, die sich so inten­siv mit nur einem Album oder The­ma aus­ein­an­der­set­zen. In die­sem Fall wer­den ein­zel­ne Songs in über 30 Sei­ten ana­ly­siert und Ash­ley Khan gräbt sich ganz tief rein. Es ist ein­fach sehr inter­es­sant, wie ein Künst­ler am Höhe­punkt sei­nes Schaf­fens die­ses Instru­ment nutzt, um in eine ganz hohe, spi­ri­tu­el­le Ebe­ne vor­zu­drin­gen. Das aber nicht ver­kopft, son­dern indem er sei­ne Gefüh­le annimmt und ver­sucht, mit ihnen mit­zu­ge­hen. Die Musik kann im ers­ten Moment wirr und über­for­dernd klin­gen, aber das Buch hilft auch dabei, ein Gefühl dafür zu bekom­men. Vie­les hört sich sehr will­kür­lich, impro­vi­siert und frei an, aber jeder Ton hat sei­nen Platz und sei­ne Berechtigung.

 

7. "Die Stra­ße" von Cor­mac McCar­thy (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 2006)

Bob­by Flet­cher: Ich wür­de nahe­zu alle Bücher von Cor­mac McCar­thy emp­feh­len, wenn man die­sen Stil mag – er ist sehr redu­ziert. Er benutzt auch kei­ne Anfüh­rungs­zei­chen, weil er fin­det, dass es häss­lich aus­sieht, was es teil­wei­se ein biss­chen selt­sam zu lesen macht, aber es passt auch sehr zu sei­nem Schreib­stil. "Die Stra­ße" han­delt von einer post­apo­ka­lyp­ti­schen Welt nach einer Kata­stro­phe, in der ein Vater mit sei­nem Sohn in Rich­tung Meer reist. Die Zivi­li­sa­ti­on liegt in Trüm­mern und sie begeg­nen immer wie­der Leu­ten, denen man nicht trau­en kann. Sei­ne Bücher sind immer sehr demo­ti­vie­rend und es gibt kei­ne Hoff­nung. Es ist aber ziem­lich emo­tio­nal und mit­rei­ßend, auch wenn es bedrü­ckend ist und kei­ne gute Lau­ne macht. Man wünscht sich ein Licht am Ende des Tun­nels, aber das gibt es nicht.

 

8. "Das Par­fum" von Patrick Süs­kind (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 1985)

Kol­jah: "Das Par­fum" ist eins der weni­gen Bücher, das ich aus mei­ner Schul­zeit und dem Deutsch-​LK mit­ge­nom­men habe, weil ich damals sehr beein­druckt davon war. Es ist Patrick Süs­kinds ein­zi­ger wirk­li­cher Roman und er ist einer der erfolg­reichs­ten auf deut­scher Spra­che, die je geschrie­ben wur­den. Wenn man das Buch liest, merkt man das auch. Es ist nicht nur gut geschrie­ben, son­dern die Geschich­te ist ein­fach toll. Sie spielt im 18. Jahr­hun­dert in Frank­reich, die Atmo­sphä­re dabei ist wahn­sin­nig beein­dru­ckend. Neben dem Buch fin­de ich aber vor allem den Autor so bemer­kens­wert. Bei Erschei­nung war er Mit­te 30 und hat ein­fach ein Stück Welt­li­te­ra­tur geschrie­ben. Ihm wird nach­ge­sagt, dass genau das sein Plan war – dass er ein Buch schreibt und dann davon leben kann. Er gibt kei­ne Inter­views, man weiß nicht, wie er aus­sieht und man weiß auch sonst nichts über ihn. Ab und zu kom­men noch alte Novel­len von ihm raus, aber er hat nie wie­der ein Buch geschrie­ben. So eine igno­ran­te Ver­schwen­dung von Talent fin­de ich beeindruckend.

 

9. "Der freie Fall der Spott­dros­sel" von Annie Dil­lard (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 1996)

Bob­by Flet­cher: Die­ses Buch hat den Pulitzer-​Preis gewon­nen! Und danach habe ich es natür­lich auch aus­ge­wählt. Mein Vater hat mir irgend­wann mal Annie Dil­lard gezeigt. Sie ist eine Autorin, die sehr vie­le reli­giö­se Bil­der nutzt und sie mit Natur­be­ob­ach­tun­gen zusam­men­bringt. Klas­si­sche Roma­ne schreibt sie nicht, es sind ein­fach Beob­ach­tun­gen, mit­hil­fe derer sie Quer­ver­bin­dun­gen schafft. Sie sieht sich zum Bei­spiel etwas in der Natur an und bringt es dann mit einer Kir­che, die sie in Jeru­sa­lem besucht hat, in Ver­bin­dung. Sie schafft Bil­der, die so eine wahn­sin­ni­ge Tie­fe haben. An einem Punkt redet sie von einem Adler, der mit einem Mar­der kämpft, wobei sich der Mar­der im Hals des Adlers ver­beißt, obwohl er den Kampf schon ver­lo­ren hat und gestor­ben ist. Das ist ein so inten­si­ves Bild, das sie da zeich­net. Ich mag sie für ihre Per­spek­ti­ven und das Sehen der bedeut­sa­men Details im All­täg­li­chen. Sie sieht eine tie­fe Bedeu­tung in allem, was es biblisch macht, ohne dabei reli­gi­ös zu sein. Sie zu emp­feh­len, ist sehr pri­vat für mich, und das ist wahr­schein­lich das Buch, mit dem die wenigs­ten etwas anfan­gen kön­nen. Aber wer ein Bewusst­sein für sol­che Sachen hat, wird gro­ßen Gefal­len dar­an fin­den. Kol­jah könn­te man das zum Bei­spiel nicht geben, weil für ihn nicht in allem eine Bedeu­tung liegt und er sowas ablehnt. Man­che Leu­te wol­len die Welt ein­fach nur bren­nen sehen. (lacht)

Kol­jah: (lacht) Ja, man­che Leu­te wol­len das. Das unter­schrei­be ich. Ich möch­te mich aber nicht wei­ter dazu äußern, wir las­sen das jetzt ein­fach so stehen.

 

10. "Anpfiff" von Toni Schu­ma­cher (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 1987)

Kol­jah: Bei all die­sem bedeu­tungs­schwan­ge­ren Blöd­sinn möch­te ich zu Toni Schu­ma­cher kom­men. Ent­hül­lun­gen über den deut­schen Fuß­ball. Die­ses Buch ist 1987 erschie­nen, bis dahin war er Tor­wart der deut­schen Natio­nal­mann­schaft und Spie­ler beim 1. FC Köln. Als das Buch her­aus­kam, ist er über­all raus­ge­flo­gen und die Kar­rie­re war im Eimer, weil er es sich damit bei allen ver­scherzt hat. Ich habe es aber nicht nur wegen die­ser lus­ti­gen Bege­ben­heit aus­ge­sucht, son­dern weil ich wirk­lich eine gro­tes­ke Fas­zi­na­ti­on für Fußballer-​Biographien habe. Ich muss dazu­sa­gen, dass ich mich nur für Fuß­ball vor der Jahr­tau­send­wen­de inter­es­sie­re und ich kei­ne Ahnung von aktu­el­lem Fuß­ball habe.

Bob­by Flet­cher: Ich fin­de, wir soll­ten einen Song über 90er Jahre-​Fußball machen, aber ich wüss­te gar nicht, was für einen Beat wir dafür neh­men soll­ten und wie das aus­se­hen soll­te. Ach ja, wir haben ja einen Song dar­über gemacht, der nicht auf dem Album ist, weil ich kein Mit­spra­che­recht habe. Das ist doch ein­fach nur Salz, das in mei­ne immer noch pul­sie­ren­de Wun­de gestreut wird. Dass du mit so einem Buch jetzt hier um die Ecke kommst …

Kol­jah: Hier geht es ja um Fuß­ball aus den 80er Jah­ren. Der Song hieß "Schwim­men mit Ulf Kirs­ten", aber dar­um soll es hier gar nicht gehen. Viel­leicht möch­ten wir den ja noch als MZEE Exclu­si­ve raus­brin­gen. Ich hat­te 2001 mit "Du bist frei" ein MZEE Exclu­si­ve, was damals eine gro­ße Sache war. Dan­ke noch mal an Ralf Kott­hoff. Aber ich möch­te zu Toni Schu­ma­cher zurück­kom­men. Bei die­sen Fußballer-​Biographien gibt es wirk­lich eini­ge Per­len, ich lese das total ger­ne. Nach die­ser müss­te man eigent­lich direkt noch "Halb­zeit" von Uli Stein lesen, weil die bei­den Riva­len waren. Uli Stein hat in sei­nem Buch Franz Becken­bau­er als Sup­pen­kas­per bezeich­net und ist dar­auf­hin auch raus­ge­flo­gen. Das sind gei­le Typen. "Anpfiff" habe ich mir natür­lich auch schon als Kind in der Stadt­bü­che­rei aus­ge­lie­hen, habe es aber selbst­ver­ständ­lich noch mal kau­fen müs­sen und es erneut gele­sen. Er hat da Insi­der auf­ge­schrie­ben, die heu­te über­haupt nicht mehr denk­bar sind – in Trai­nings­la­gern über den Zaun klet­tern, um in irgend­wel­chen Spe­lun­ken zu sau­fen, und Doping-​Geschichten, die er offen­bart hat. Es war auf jeden Fall ein gro­ßer Skan­dal und ein lus­ti­ges Zeitdokument.

 

11. "Neme­sis" von Phil­ip Roth (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 2010)

Bob­by Flet­cher: Die­ses Buch han­delt von einem Sport­leh­rer und Kin­der­läh­mung. (Kol­jah lacht) Wenn man sich mit der Grund­stim­mung, die ich in Büchern mag, aus­ein­an­der­setzt, darf Kin­der­läh­mung natür­lich nicht feh­len. Ich weiß über­haupt nicht, was mich an die­sem Buch so fas­zi­niert hat, vor allem weil man sich inzwi­schen ja auch dage­gen imp­fen las­sen kann und es eigent­lich red­un­dant gewor­den ist. Es hat aber eine inter­es­san­te Erzähl­per­spek­ti­ve, die man erst spä­ter ver­steht. Dadurch bekommt es noch eine ande­re Ebe­ne, die es auch für die heu­ti­ge Zeit rele­vant macht. Bucky, der Sport­leh­rer, der für vie­le Kin­der ein Vor­bild ist, ver­liert in die­ser Epi­de­mie immer wie­der Schü­ler an die Krank­heit und damals wuss­te auch nie­mand, woher das kommt. Es ist sehr sim­pel und direkt geschrie­ben, der Schreib­stil ist nicht blu­mig oder fan­ta­sie­voll, son­dern kon­zen­triert sich auf den Prot­ago­nis­ten und sei­ne Gefühlswelt.

 

12. "Das letz­te Gefecht – Die Lin­ke im Kal­ten Krieg" von Jan Ger­ber (Erst­ver­öf­fent­li­chung: 2022)

Kol­jah: Ich habe mei­ne Aus­wahl eher bei­spiel­haft für bestimm­te Arten von Büchern getrof­fen und da ich auch ger­ne über poli­ti­sche Theo­rie und gesell­schaft­li­che The­men lese, habe ich das mit­ge­bracht. Hier geht es um lin­ke Geschichts­schrei­bung und es wur­de mir jüngst vom Autor in Leip­zig geschenkt. Ursprüng­lich war das sei­ne Dis­ser­ta­ti­on, die the­ma­ti­siert, wie der Bruch der Sowjet­uni­on und des gesam­ten Ost­blocks die lin­ke Sze­ne in der BRD beein­flusst und irri­tiert hat, weil ein Ori­en­tie­rungs­punkt weg­ge­bro­chen war. Wohl­ge­merkt auch ein Ori­en­tie­rungs­punkt für Leu­te, die die Sowjet­uni­on nicht gut fan­den. Man muss sich schon sehr für links­ra­di­ka­le Debat­ten inter­es­sie­ren, um das lesen zu wol­len, das ist eher Nerds­hit. Man soll­te auf jeden Fall ein Grund­in­ter­es­se für poli­ti­sche Split­ter­grup­pen mit­brin­gen. Wie gesagt war die Sowjet­uni­on auch für ihre Kri­ti­ker in der BRD-​Linken ein Fix­punkt und zu Zei­ten des Kal­ten Krie­ges gab es die bei­den Pole Wes­ten und Osten. Die Sowjet­uni­on stand für etwas ande­res als Kapi­ta­lis­mus, am Ende war aber sozu­sa­gen nur noch der Kapi­ta­lis­mus da. Die Lin­ke geriet in eine Kri­se und ver­sank in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit. Gleich­zei­tig ent­stand im Zuge der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung die Strö­mung der Anti­deut­schen. Ich fin­de das Buch sehr span­nend. Außer­dem hal­te ich Jan Ger­ber für einen guten His­to­ri­ker. Mir macht es Spaß, mich in sowas rein­zu­ner­den, und ich habe inzwi­schen wahr­schein­lich auch viel unnüt­zes Wis­sen über The­men wie die RAF, K-​Gruppen und irgend­wel­che lin­ken Sekten.

MZEE​.com: Die­ses unnüt­ze Wis­sen fin­det sich ja auch oft als Refe­renz oder Anspie­lung in dei­nen Tex­ten wie­der. Hast du das Gefühl, dass dir das zu Tei­len nega­tiv oder zu poli­tisch aus­ge­legt wird, obwohl es manch­mal viel­leicht nur das Nerd­sein ist, das sich da zeigt?

Kol­jah: Mit Sicher­heit haben wir auch eini­ge expli­zit poli­ti­sche Songs, die irgend­et­was wol­len. Aber dass etwa unser Album "Anar­chie und All­tag" nur so vor RAF-​Referenzen strotz­te, war eher ein Stil­mit­tel. Zum Bei­spiel: "Und natür­lich kann geschos­sen wer­den" in dem Song "Das Tro­ja­ni­sche Pferd", was ein Ulri­ke Meinhof-​Zitat ist. Mit die­sen Anspie­lun­gen haben wir ein biss­chen koket­tiert, aber letzt­lich war "Das Tro­ja­ni­sche Pferd" ein­fach ein Konzept-​Song. Bei "RAF Rent­ner" war es lus­tig, dass die Reak­tio­nen je nach Per­spek­ti­ve sehr unter­schied­lich waren. Wir machen uns in dem Lied ja über den geschei­ter­ten, immer noch in der Ille­ga­li­tät leben­den Rest der RAF lus­tig. In Kreuz­berg haben sich lin­ke Anti­im­pe­ria­lis­ten so sehr über "RAF Rent­ner" geär­gert, dass sie auf Wän­de gesprüht haben, die Anti­lo­pen sei­en Fein­de der RAF. Gleich­zei­tig dach­ten irgend­wel­che Lokal­zei­tun­gen, bei denen wir im Inter­view saßen, dass wir RAF-​Sympathisanten sei­en, und fan­den das unmög­lich. Ich war wirk­lich mal RAF-​Sympathisant, da war ich so 16 Jah­re alt und dach­te nicht nur, dass die Kom­man­doer­klä­run­gen wahn­sin­nig klug wären, son­dern dass man sie auch in die Jetzt-​Zeit über­tra­gen kön­ne. An mir war der Zusam­men­bruch des Ost­blocks offen­bar vor­bei­ge­gan­gen. Heut­zu­ta­ge spie­le ich ger­ne in Songs damit und habe jedes Buch zum The­ma gele­sen, aber ich glau­be, man muss sich sehr rudi­men­tär mit der RAF und mit der Anti­lo­pen Gang befasst haben, um zu den­ken, dass wir das ein­fach stu­pi­de abfei­ern. Vie­le Sachen wer­den auch über­in­ter­pre­tiert, das nervt ein biss­chen. Manch­mal ist es nur eine ran­dom Zei­le in einem ran­dom Song.

(Yas­mi­na Rossmeisl)
(Foto von Kay Özdemir)