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Interview

Pilz – ein Gespräch über Spielsucht

"Die Wenigs­ten wür­den von sich sagen, süch­tig nach Rub­bel­lo­sen zu sein. Trotz­dem waren 80 Pro­zent der Käufer:innen auch Stammkund:innen, die auch bei der gro­ßen Lot­te­rie mit­mach­ten." ‒ Pilz im Inter­view über Glücks­spiel, Sport­wet­ten und den Umgang mit Betroffenen.

Sams­tag­nach­mit­tag, 15:30 Uhr: Es bahnt sich ein Herz­schlag­fi­na­le in der deut­schen Fußball-​Bundesliga an, und auch die Wer­be­ma­cher lau­fen daher zu Hoch­form auf. Wer den Fern­se­her ein­schal­tet, um live mit­zu­fie­bern, wird vor Spiel­be­ginn von drei ver­schie­de­nen Wett­an­bie­tern dazu auf­ge­for­dert, auf den Erfolg bezie­hungs­wei­se Miss­erfolg der Mann­schaf­ten zu set­zen. Wäh­rend des Spiels fol­gen auf der Ban­den­wer­bung zwei ande­re Anbie­ter, die gro­ße Gewin­ne für klei­nes Geld ver­spre­chen. Wer nach einem auf­wüh­len­den Sport­tag noch mal die Gescheh­nis­se der ver­gan­ge­nen Stun­den in einer Knei­pe Revue pas­sie­ren las­sen will, wird dort nicht an Spiel­au­to­ma­ten vor­bei­kom­men, in die Men­schen gera­de ihr Klein­geld oder ihre Schei­ne ste­cken – in der Hoff­nung, den ganz gro­ßen Gewinn für ihre Wag­nis­se zu erzie­len. Das Spiel mit dem Glück ist ein boo­men­des Mil­li­ar­den­ge­schäft, das jeder Gene­ra­ti­on ein neu­es Gesicht prä­sen­tiert: Waren es vor Jahr­zehn­ten noch Spie­lo­the­ken, Pfer­de­wet­ten oder Lotto-​Scheine, sind es heu­te Online-​Casinos, Poker­spie­le und Live-​Sportwetten bei zahl­lo­sen, meist digi­ta­len Anbie­tern. Was gleich­zei­tig mit den Umsät­zen der Glücks­spiel­an­bie­ter boomt, ist die Zahl der Süch­ti­gen: Rund 430.000 Men­schen sind in Deutsch­land spiel­süch­tig, die Dun­kel­zif­fer dabei schier end­los. Wir haben mit der Rap­pe­rin Pilz – deren Song "Nie wie­der Tipi­co" das eige­ne, unge­sun­de Ver­hält­nis zu Sport­wet­ten anspricht – über die­ses The­ma gespro­chen und woll­ten wis­sen, was ihre Spielsucht-​Erfahrungen sind, wie­so Deutsch­land so unkri­tisch mit dem Pro­blem umgeht und wie man Betrof­fe­nen im Umfeld best­mög­lich hel­fen kann.

MZEE​.com​: Nach­dem wir heu­te über Spiel­sucht spre­chen wol­len, hilft es, mehr über dei­ne Erfah­run­gen mit dem The­ma zu wis­sen. Was waren dei­ne ers­ten Berüh­rungs­punk­te mit Glücks­spiel? Wür­dest du sagen, dass Wet­ten oder Spie­len zu einem Zeit­punkt in dei­nem Leben ein Pro­blem war?

Pilz: Mei­ne ers­ten Erin­ne­run­gen an das The­ma star­ten tat­säch­lich schon in der Kind­heit, weil mei­ne Mut­ter eine Eck­knei­pe betrieb, als ich so cir­ca zwölf Jah­re alt war. Da stan­den auch Spiel­au­to­ma­ten, sol­che "ein­ar­mi­gen Ban­di­ten", in der Bar. Als Kind fin­det man das beson­ders fas­zi­nie­rend: Die­se dre­hen­den Ban­de­ro­len, an denen alles auto­ma­tisch funk­tio­niert und bunt leuch­tet. Da möch­te man sofort über­all drauf­drü­cken. Mei­ne Mut­ter bemüh­te sich von Anfang an, mich mög­lichst fern davon zu hal­ten und erklär­te, wie pro­ble­ma­tisch die­ser Auto­mat sein kann, auch wenn man das als Zwölf­jäh­ri­ge nicht ver­steht. Ich habe wohl öfter vor­ge­schla­gen, mal mein Taschen­geld da rein­zu­wer­fen. (lacht) Um mich davon abzu­brin­gen, hat sie einen Gast der Knei­pe ange­spro­chen, der von sich selbst sag­te, er sei spiel­süch­tig. Sie bat ihn dar­um, mir mal zu erzäh­len, war­um der Auto­mat nicht so gut sei. Das war schon ein klei­ner Schock, aber effek­tiv. Die­ser Mann ent­sprach sehr dem Kli­schee eines Spiel­süch­ti­gen, der oft als alko­ho­li­siert und her­un­ter­ge­kom­men dar­ge­stellt wird. Ich habe Spiel­au­to­ma­ten dann erst­mal mit ihm asso­zi­iert und dank die­ser Geschich­te hielt ich mich davon immer fern. Die nächs­te, wirk­lich akti­ve Erin­ne­rung stammt aus der Schul­zeit und von einem Mit­schü­ler, der in der Mit­tags­pau­se stän­dig ver­schwand und nach­mit­tags zu spät zum Unter­richt zurück­kam. Nach eini­gen Mona­ten gestand er uns, wäh­rend der Pau­sen in die Spie­lo zu gehen. Wie er das gemacht hat, ist mir bis heu­te nicht klar – voll­jäh­rig war er ziem­lich sicher nicht. Er erzähl­te, wie viel Geld er dort schon ver­lor und dass dies einer der Grün­de für ihn gewe­sen wäre, mit dem Gras­dea­len anzu­fan­gen. Da schließt sich natür­lich ein Teufelskreis.

MZEE​.com​: Hat­test du noch wei­te­re Erfah­run­gen mit Glücks­spiel, bevor du selbst erst­mals ein Wett­bü­ro betratst?

Pilz: Frü­her muss­te ich mal in einem rich­tig ran­zi­gen Kiosk arbei­ten, damit Geld rein­kommt. Es gab auch eine Lotto-​Station in die­sem Laden. Was mir bei der dazu­ge­hö­ri­gen Lotto-​Schulung total im Gedächt­nis blieb: Das, was am süch­tigs­ten macht, sind Rub­bel­lo­se. Scheiß Rub­bel­lo­se! Das mag abstrus klin­gen, aber durch die nied­ri­gen Sum­men, die hier ver­lo­ren wer­den, ebnet das den Ein­stieg zur gro­ßen Lot­te­rie. Eine Hemm­schwel­le gibt es hier nicht ein­mal für älte­re Mut­tis auf dem Dorf. Die wer­den als klei­ner Spaß neben­bei gekauft und man kann nicht viel ver­lie­ren. Dass sich das läp­pert, wenn du jah­re­lang jede Woche ein paar Lose kaufst, bedenkt man dadurch noch weni­ger. Bei die­ser Schu­lung habe ich auch gelernt, dass die meis­ten Gewin­ne hier auch direkt reinves­tiert wer­den. Wer mal ein erfolg­rei­ches Los zog, möch­te direkt drei wei­te­re kau­fen. Das habe ich super oft erlebt. Die Wenigs­ten wür­den von sich aber sagen, süch­tig nach Rub­bel­lo­sen zu sein. Trotz­dem waren 80 Pro­zent der Käufer:innen auch Stammkund:innen, die meis­tens auch bei der gro­ßen Lot­te­rie mit­mach­ten, weil sie dach­ten, ein funk­tio­nie­ren­des Sys­tem für sich ent­wi­ckelt zu haben. Men­schen, die von sich selbst behaup­te­ten, seit 20 Jah­ren die­sel­ben Zah­len zu tip­pen. Damals fand ich das unter­halt­sam und habe mit den Men­schen zusam­men dar­über gewit­zelt, dass es bald mal klappt. Dass es wie Glücks­spiel­sucht wirkt, seit 20 Jah­ren drei Mal im Monat die glei­chen Zah­len in einem Ora­kel zu tip­pen, ist mir erst viel spä­ter aufgefallen.

MZEE​.com​: Auch abstrus, dass da kei­ne Resi­gna­ti­on ein­setzt. Ich mei­ne: Wie viel Glück steckt in dei­nen Glücks­zah­len, wenn du seit 20 Jah­ren mit ihnen verlierst?

Pilz: Eigent­lich trau­rig. Die den­ken eben, sie hät­ten das Sys­tem geknackt, und behaup­ten, dass es ja nur ein paar Euro pro Monat sind. Ein paar Euro seit 20 Jah­ren sind aber eine gan­ze Men­ge. Das ver­hält sich wie mit Leu­ten, die den­ken, sie hät­ten kein Alko­hol­pro­blem, weil sie nur ein Bier am Abend trin­ken. Na ja, wenn du jeden Abend seit 20 Jah­ren Bier trinkst, ist das schon problematisch!

MZEE​.com​: Inwie­weit haben die­se Geschich­ten als abschre­cken­des Bei­spiel auf dich gewirkt, um in die­sen besag­ten Teu­fels­kreis nicht selbst zu geraten?

Pilz: Die­se Geschich­ten, auch aus dem nähe­ren Umfeld und Freun­des­kreis, haben auf jeden Fall dazu geführt, dass ich mich viel mit dem The­ma "Auto­ma­ten" beschäf­tig­te. Mit dem The­ma "Spiel­sucht" bin ich wie­der­um über Sport­wet­ten in Berüh­rung gekom­men. Wie ich erst­mals dazu kam, einen Wett­schein aus­zu­fül­len, kann ich aber selbst nicht mehr sagen. Ich weiß nur noch, dass das so 2014 oder 2015 pas­siert sein muss. Damals leb­te ich von Sozi­al­hil­fe und hat­te zusätz­lich Schul­den ange­häuft – kurz gesagt, ich war bro­ke as fuck. In so einer Situa­ti­on kam ich drauf, dass ich mein Glück mit Sport­wet­ten ver­su­chen könn­te … absur­der­wei­se. (lacht) Bei mir ging es dabei aus­schließ­lich um Fuß­ball­wet­ten, um kei­ne ande­re Sport­art. Hier habe ich auch immer ohne Sys­tem, son­dern nur aus dem Bauch her­aus gewet­tet. (über­legt) Mir fällt gera­de ein: Der Vater einer Freun­din nahm mich zwei-, drei­mal mit nach Ham­burg und lud uns zu Pfer­de­ren­nen ein, bei denen wir "dank ihm" mit­wet­ten durf­ten. Da muss ich auch erst zwölf Jah­re alt gewe­sen sein, maxi­mal 14. Viel­leicht kam so das The­ma "Sport­wet­ten" erst­mals in mein Leben.

MZEE​.com​: Absurd, wie prä­sent das The­ma in Deutsch­land ist: Sei­ne Kin­der zu Pfer­de­wet­ten mit­zu­neh­men, Spiel­au­to­ma­ten in jeder Knei­pe des Lan­des, eine Spie­lo­thek um die Ecke des Schul­ge­län­des – das wirkt alles unge­sund und falsch. Wann hat­test du bei dei­nen Sport­wet­ten das Gefühl, dass dein Umgang mit dem The­ma pro­ble­ma­tisch wird?

Pilz: Ich hat­te ein fes­tes Wett­bü­ro in der Nähe des Lübe­cker Bahn­hofs, in das ich immer wie­der mit einem Kum­pel gegan­gen bin. Kam ich da rein, wur­de ich erst­mal ange­glotzt. Ich habe nie eine ande­re Frau an die­sem Ort gese­hen, zusätz­lich war ich gera­de frisch voll­jäh­rig und sah ziem­lich jung aus – gleich zwei Fak­ten, die mich auf­fal­len lie­ßen. Anfangs haben die Leu­te dort eher ungläu­big geguckt, und irgend­wann habe ich deren Gesich­ter auch selbst erkannt und mir gemerkt. Da saßen immer die­sel­ben Gestal­ten, die mit einer Packung Toast­brot am Tisch saßen und Schein nach Schein aus­füll­ten, schein­bar den gan­zen Tag. Ein­mal habe ich in die­sem Wett­bü­ro ein Spiel geguckt, weil ich Live-​Wetten abschlie­ßen woll­te. Dann plötz­lich kam einer die­ser Typen vor­bei, hat mich gegrüßt und mir eines sei­ner Toast­bro­te ange­bo­ten. (lacht) Das klingt jetzt komisch, aber das war der Moment, in dem ich merk­te, dass etwas nicht stimmt – weil ich so häu­fig bei ihnen war, dass er mich erkann­te. Das sind sol­che Mikro­mo­men­te, die mich zum Umden­ken gebracht haben. Ich habe dar­auf­hin einen sau­be­ren Schluss­strich gezo­gen und gesagt, dass ich das künf­tig ein­fach nicht mehr mache.

MZEE​.com​: Hast du seit­dem je wie­der gewettet?

Pilz: (über­legt) In einem Wett­bü­ro war ich seit­her nie wie­der. Letz­tes Jahr bei einem Spiel von Lübeck gegen Essen, das ich mit mei­ner Fami­lie zu Hau­se sehen woll­te, kam das Bedürf­nis aber wie­der auf, eine Wet­te abzu­schlie­ßen. Damals über mein Han­dy, was ich nie zuvor gemacht hat­te. Als ich mich gera­de regis­trie­ren woll­te, habe ich gemerkt, wie ich in glei­che Ver­hal­tens­mus­ter wie damals rein­schlit­ter­te. Mein Kum­pel riet mir dann ein­dring­lich davon ab, wes­we­gen ich die Wet­te nie abge­schickt habe. Zum Glück!

MZEE​.com​: Macht es für dich einen Unter­schied, selbst im Laden einen Schein aus­zu­fül­len oder nur am Han­dy mit­zu­spie­len? Und wie kann man sich die Atmo­sphä­re in einem Wett­bü­ro vor­stel­len? Ich selbst war nur ein­mal in einem.

Pilz: Wie hast du die Stim­mung bei dei­nem Besuch wahrgenommen?

MZEE​.com​: Fast schon trau­rig. Sehr vie­le bedrückt wir­ken­de Men­schen auf engem Raum. Das klingt jetzt pathe­tisch, aber mein Ein­druck war, dass das Leid vie­ler Men­schen fast schon in der Luft hing.

Pilz: Exakt das. Mal ein Ver­gleich: Beim Public Vie­w­ing von Sport­events herrscht auch eine ange­spann­te Atmo­sphä­re, weil so vie­le lei­den­schaft­li­che Fans an einem Ort sind und bei­spiels­wei­se einen Sieg von Deutsch­land sehen wol­len. Das ist aber erst mal posi­tiv. Im Wett­bü­ro sind auch vie­le Men­schen ange­spannt, aber aus ande­ren Grün­den. Die Stim­mung wirkt immer depri­miert, nicht eupho­ri­siert. Schein­bar inter­es­siert sich nie­mand wirk­lich für den Sport, weil es jede Minu­te nur dar­um geht, ob man gera­de Geld ver­liert oder gewinnt. Dazu kommt die feh­len­de Dis­kre­ti­on. Natür­lich kannst du dei­ne Schei­ne wei­test­ge­hend anonym an einem Auto­ma­ten machen, aber bei vie­len hör­te man eben am Schal­ter, wel­che Wet­ten abge­schlos­sen wur­den. Du siehst dann das Spiel und merkst die Aggres­si­vi­tät aller, deren Schein nicht auf­ging. Im Gegen­satz dazu sind die Apps der Anbie­ter natür­lich dar­auf trai­niert, dass du mög­lichst dum­me Ent­schei­dun­gen triffst. Dir wer­den viel mehr Wet­ten vor­ge­schla­gen, die du ganz ein­fach und impul­siv ein­ge­hen kannst. Du siehst die Live-​Quote die gan­ze Zeit und wie sie sich mit jeder Sekun­de ändert. Da schaut man das Spiel schon gar nicht mehr, son­dern über­legt, wie man sein Bauch­ge­fühl zu Geld macht. Ich habe so vie­le so dum­me Schei­ne dabei abge­ge­ben: Nicht dar­auf, dass bei­spiels­wei­se die offen­bar unter­le­ge­ne Mann­schaft gewinnt, son­dern dar­auf, wie vie­le gel­be und rote Kar­ten in einem Spiel fal­len. Kom­plett idio­ti­sche Din­ge. Das mache ich noch heu­te, wenn ich Fuß­ball schaue: aus dem Gefühl her­aus behaup­ten, wer das nächs­te Tor macht. Wenn du dann auch mal recht hast, ver­traust du dei­nem Gefühl und blen­dest die zehn Male aus, in denen du falsch lagst. Ich wet­te nur nicht mehr dar­auf. Bei den offen­sicht­li­chen Wet­ten, wer am Ende gewinnt, lag ich auch häu­fig rich­tig mit mei­nem Gefühl. Das ist ja das beson­ders Fie­se dar­an: Durch dei­ne Erfol­ge bestä­tigt sich dei­ne Idee davon, du hät­test eine Stra­te­gie gefun­den, die funktioniert.

MZEE​.com​: Das klingt bei dir aber zumin­dest nicht so, als hät­test du unfass­bar hohe Sum­men ver­lo­ren. Hast du es mal durchgerechnet?

Pilz: Wenn man alles zusam­men­zählt, bin ich am Ende ganz sicher im Minus. Ich hat­te nie so viel Geld, das ich über­haupt wirk­lich "hohe Sum­men" hät­te set­zen kön­nen. Wenn du aber Sozi­al­hil­fe bekommst, ist jede Sum­me für dich eine zu hohe Sum­me. Vie­le fan­gen an die­sem Punkt dann an, sich Geld zu lei­hen und so. Gott sei Dank war mir das aber immer viel zu unan­ge­nehm. Der Teu­fels­kreis besteht immer aus Frust und Wut: Wenn ich bei­spiels­wei­se etwas gewon­nen habe, konn­te ich mich nie freu­en. Ich habe mich immer nur geär­gert, nicht noch mehr gesetzt zu haben. Und wenn die Gewin­ne irgend­wann die ursprüng­lich gesetz­te Sum­me über­stei­gen, wird nur das tat­säch­lich gewon­ne­ne Geld reinves­tiert, was "ja sowie­so nur Gewinn war." So redet man sich selbst ein, logisch zu han­deln. Bei mir war das aber nie so extrem wie bei vie­len Leu­ten, die ich zum Teil auch ken­ne. Ich war nie an dem Punkt, an dem ich nach Erfol­gen immer höhe­re Beträ­ge setz­te und so immer tie­fer ins Pro­blem rein­ge­rutscht bin.

MZEE​.com​: Sport­fans wer­den in der Bun­des­li­ga rund um die Uhr von ver­schie­de­nen Wett­an­bie­tern mit der bes­ten Quo­te schier bom­bar­diert. Wie ist das mög­lich? Inwie­weit ist unser Umgang mit dem The­ma Sport­wet­ten in Deutsch­land zu unkritisch?

Pilz: Hät­test du mich gefragt, wie prä­sent Wer­bung für Sport­wet­ten in Deutsch­land ist, als ich selbst noch viel mehr Zeit mit Tipp­schei­nen und Ähn­li­chem ver­bracht habe, wäre mei­ne Ant­wort nicht so klar aus­ge­fal­len wie heu­te. Vie­le der Wer­be­for­men sind eher unter­schwel­lig gestal­tet, bei­spiels­wei­se in Form von Ban­den­wer­bung am Spiel­feld­rand. Gene­rell haben wir einen sehr unkri­ti­schen Umgang mit Glücks­spiel. Unglaub­lich eigent­lich in einem Bürokratie-​Staat wie Deutsch­land, dass Glücks­spiel in der Form über­haupt erlaubt ist. Das ist total selt­sam. Wenn ich mir heut­zu­ta­ge Men­schen wie Knos­si oder Mon­ta­na Black anschaue, die ihre teils jun­gen Zuschauer:innen in Streams jah­re­lang mit Glücks­spiel in Online-​Casinos bespaß­ten, hel­fen auch War­nun­gen vor und nach den Streams nur wenig. Eine War­nung, dass Glücks­spiel süch­tig machen kann, bringt nicht so viel, wenn dein Idol damit schein­bar Unsum­men verdient.

MZEE​.com​: Bei Online-​Casino-​Werbung emp­fin­de ich es als beson­ders extrem. Da gibt es eine War­nung nach dem Wer­be­spot, dass die­ses Spiel nur mit Wohn­sitz in bestimm­ten Bun­des­län­dern legal sei. Soll­te der Staat mehr Maß­nah­men ergrei­fen, um des Pro­blems Herr zu werden?

Pilz: Ich glau­be nicht, dass wir das Pro­blem ohne staat­li­che Regu­lie­rung über­haupt bewäl­ti­gen kön­nen. Es gibt seit Jah­ren Men­schen, die auf die Gefah­ren von Glücks­spiel auf­merk­sam machen. Es gibt die­se War­nun­gen vor Wer­bun­gen von Tipi­co und Online-​Casinos. Was hat es gebracht? Das Pro­blem ist trotz­dem omni­prä­sent. Das Min­des­te wäre ein Ver­bot von Sportwetten-​Werbung wäh­rend der eigent­li­chen Spie­le, um die­sen unter­schwel­li­gen Bot­schaf­ten Ein­halt zu gebie­ten. Der psy­cho­lo­gi­sche Effekt die­ser sub­ti­len Wer­be­for­men ist ja durch­aus unter­sucht wor­den. Außer­dem muss man die Anbie­ter selbst mehr in die Pflicht neh­men: Es gibt Casi­nos, in denen es vor­ge­schrie­ben ist, beim Ein­gang den Aus­weis vor­zu­le­gen. Dort kann in einem inter­nen Tool gecheckt wer­den, ob bei der Per­son eine Spiel­sucht vor­liegt, und der Zugang zum Casi­no gege­be­nen­falls unter­sagt wer­den. Das sind aber Ideen, die aus­schließ­lich phy­sisch vor Ort umge­setzt wer­den kön­nen. Wie das bei Online-​Casinos oder Wettanbieter-​Apps umge­setzt wird, kei­ne Ahnung. Da ist die Hemm­schwel­le viel zu nied­rig, der Zugang viel zu ein­fach und spie­le­risch. Von selbst wer­den die Anbie­ter ihr Sys­tem nicht ändern. Spiel­sucht ist immer­hin ein Mil­li­ar­den­ge­schäft, bei dem jede:r im Kapi­ta­lis­mus profitiert.

MZEE​.com​: Du hast es eben bereits ange­spro­chen: Auch auf Twitch fin­den sich immer wie­der Streamer:innen, die plötz­lich in Steu­er­pa­ra­die­sen wie Mal­ta oder Zypern woh­nen und uto­pi­sche Gewinn­sum­men in Online-​Casinos prä­sen­tie­ren und ver­spre­chen. Wie gefähr­lich ist ein sol­cher Ein­fluss auf poten­zi­ell noch jugend­li­che Zuschauer:innen?

Pilz: Ich wür­de sogar so weit gehen, zu sagen, dass es prä­ven­ti­ve Kur­se und Mög­lich­kei­ten schon in der Schu­le geben soll­te, um auf die Gefah­ren von Glücks­spiel hin­zu­wei­sen. Ich glau­be nicht, dass das bei mir in der Schul­zeit der Fall war. Es gab nie Sozialarbeiter:innen, die Vor­trä­ge über Spiel­sucht hiel­ten, was mei­ner Mei­nung nach drin­gend not­wen­dig wäre. Da hängt das Schul­sys­tem weit hin­ter­her. Für har­te Dro­gen bei­spiels­wei­se gibt es Orga­ni­sa­tio­nen, die ehe­mals Abhän­gi­ge von Schu­le zu Schu­le schi­cken und ihre Geschich­te erzäh­len las­sen. Das hat einen viel stär­ke­ren Effekt auf Jugend­li­che, als wenn es einem nur die Lehr­kraft erzählt, die man viel­leicht nicht ein­mal mag. Es wäre bestimmt wir­kungs­voll für eini­ge, wenn Betrof­fe­ne in die Klas­sen gehen und von ihren Pro­ble­men erzäh­len. Wie sind sie in den Teu­fels­kreis gera­ten, wie viel haben sie ver­lo­ren? Eine sol­che Vor­trags­rei­he wäre gut, viel­leicht ergän­zend zu sozi­al­päd­ago­gi­schen Ideen, die den rich­ti­gen Umgang mit dem The­ma und die Gefah­ren spie­le­risch erläu­tern. Nur so kann man bes­ser sicher­stel­len, gar nicht erst in die Fal­le zu gera­ten. Ist aber natür­lich auch ein super­sen­si­bles und stig­ma­ti­sier­tes Thema.

MZEE​.com​: Der Song "Nie wie­der Tipi­co", der dein eige­nes unge­sun­des Ver­hält­nis zu Sport­wet­ten offen­bart, ist jetzt über acht Jah­re alt. Ich habe bis hier­hin her­aus­ge­hört, dass du selbst mit dem The­ma wei­test­ge­hend abschlie­ßen konn­test, oder?

Pilz: Ich kann zum Glück sagen, heut­zu­ta­ge gar kei­ne Berüh­rungs­punk­te mehr damit zu haben. Es wirkt auf mich eher abschre­ckend, wenn ich mitt­ler­wei­le eben­je­ne Tipico-, bwin- oder sons­ti­ge Wer­bun­gen sehe. Bei mir ist sogar eine Spie­lo­thek um die Ecke, das juckt mich aber auch nicht mehr – trotz Freund:innen, die es wit­zig fän­den, da rein­zu­schau­en. Das leh­ne ich kon­se­quent ab, um gar nicht erst in Ver­su­chung zu kom­men und weil ich mich sowie­so nur ärgern wür­de. Alles, was ich pri­vat mitt­ler­wei­le dazu mit­be­kom­me, sind trau­ri­ge Geschich­ten aus mei­nem Umfeld. Das fühlt sich aber viel wei­ter ent­fernt von mei­ner Lebens­rea­li­tät an als frü­her. (über­legt) Die­se Distanz wird fast zwangs­läu­fig grö­ßer, weil sich Men­schen mit Spiel­pro­ble­men zumeist stark iso­lie­ren. Sozia­le Kon­tak­te sind oft kein The­ma mehr.

MZEE​.com​: Hat­test du mal ein Gespräch, in dem du das Pro­blem direkt the­ma­ti­siert hast, nach­dem dir ein mög­li­ches Spiel­pro­blem auffiel?

Pilz: Eine Per­son, die sich zeit­wei­se immer wie­der Geld bei mir gelie­hen hat, hat oft einen sehr prä­gnan­ten Bei­satz gesagt: "Kei­ne Sor­ge, du bekommst es nächs­ten Monat auch dop­pelt zurück", obwohl ich nie wis­sen woll­te, wann oder wie ich die Koh­le wie­der­be­kom­me. Das ist ganz typisch. Jeden­falls woll­te ich irgend­wann wis­sen, wofür er immer wie­der Geld von mir braucht, wor­auf­hin er erst offen­bar­te, dass es gera­de in der Spie­lo nicht so gut lie­fe. Bis dahin habe ich das Pro­blem nicht ein­mal geahnt. Natür­lich woll­te ich dann wis­sen, wie ich ihm hel­fen kann, wor­auf­hin er aber wie­der­um kom­plett abblock­te und die typi­schen Aus­re­den zuhil­fe nahm. Heut­zu­ta­ge wür­de ich die Spiel­sucht als ein Sym­ptom vie­ler ande­rer Pro­ble­me sehen und über Bezie­hungs­ar­beit ver­su­chen, her­aus­zu­fin­den, was für Din­ge noch so in dem Men­schen schlum­mern. Nicht so sehr den Fin­ger in die Wun­de legen, son­dern über Umwe­ge die eigent­li­chen Schwie­rig­kei­ten erfra­gen. Was mir auch ganz wich­tig ist: sich selbst dabei emo­tio­nal abzu­gren­zen. Ich selbst habe mich immer wie­der dabei erwischt, mir Vor­wür­fe zu machen und mich zu fra­gen, ob ich nicht noch mehr tun könn­te. Nein, kann man nicht! Die meis­ten von uns sind kei­ne Therapeut:innen und unse­re Freund:innen sind nicht unse­re Klient:innen. Manch­mal kann es schon hel­fen, ein offe­nes Ohr zu haben, zuzu­hö­ren und Hil­fe anzu­bie­ten, aber anneh­men müs­sen die Men­schen sie selbst. Viel­leicht kann man vor­her sogar fra­gen, ob emo­tio­na­ler Sup­port oder eine kon­kre­te Pro­blem­lö­sung gebraucht wird. Manch­mal will man sich ja auch nur aus­kot­zen. Ich glau­be, nur pro­fes­sio­nel­le Hil­fe kann hier wirk­lich ansetzen.

MZEE​.com​: Zum Ende wol­len wir Leser:innen ohne Berüh­rungs­punk­te mit dem The­ma hel­fen, Men­schen mit einem Spiel­pro­blem bes­ser zu ver­ste­hen. Nach­dem dein Song über Deutsch­lands bekann­tes­ten Wett­an­bie­ter auch "an alle dei­ne Brü­der" adres­siert war, wür­de ich ger­ne wis­sen: Wie hast du Men­schen wahr­ge­nom­men, denen du ein sol­ches Pro­blem ange­merkt hast? 

Pilz: Das Pro­blem ist die Schweig­sam­keit der Men­schen, die schon zu tief in der Spiel­sucht ste­cken. Nicht nur, weil sie das Pro­blem selbst nicht erken­nen, son­dern auch auf­grund des Stig­mas, wel­ches an der Spiel­sucht hängt. Die wol­len nicht dar­über reden. Die wol­len auch nicht dar­auf ange­spro­chen wer­den. Die wol­len das ver­heim­li­chen. Ich habe schon oft erlebt, dass sich Leu­te mit einem ver­meint­li­chen Pro­blem bei ande­ren Geld lei­hen woll­ten. Wenn das immer wie­der vor­kommt und von Zin­sen gespro­chen wird, mit denen das Geld dann zurück­kommt, wird rum­ge­druckst oder sehr geübt gelo­gen bei der Fra­ge, wofür die Koh­le benö­tigt wird. Es ist also sehr schwer, ein Pro­blem mit Glücks­spiel­sucht über­haupt zu erken­nen. Ähn­lich der Fra­ge, die sich Eltern in der Puber­tät des Kin­des stel­len: Wie schaf­fe ich es, dass mein Kind nicht völ­lig abdrif­tet? Die Ant­wort dar­auf ist stark indi­vi­du­ell und fall­ab­hän­gig. Viel wich­ti­ger ist es, eine Bezie­hung auf­zu­bau­en. Man soll­te offen blei­ben gegen­über den Betrof­fe­nen und sie nicht ver­ur­tei­len für die Pro­ble­me, die sie haben. Bei­spiel: Wenn ich mit einer mir noch unbe­kann­ten Per­son Fuß­ball schaue, die Tipico-​Werbung läuft und er hört, wie ich dar­über her­zie­he, wird sie sich mir gegen­über garan­tiert nicht öff­nen. Mehr noch: Je öfter sie das von ver­schie­de­nen Leu­ten immer wie­der hört, des­to gerin­ger wird die Chan­ce, dass sie sich jemals irgend­wem anver­traut. Des­halb musst du mit der nöti­gen Sen­si­bi­li­tät über das The­ma reden, die­se Vor­ver­ur­tei­lung nicht vor­an­trei­ben und Men­schen damit absicht­lich den Raum neh­men, Pro­ble­me zu erken­nen und Hil­fe anzunehmen.

(Sven Aumiller)
(Fotos von Carl Planthaber) 

(Dis­clai­mer: Wer bei sich selbst oder Men­schen in seinem:ihrem Umfeld Pro­ble­me mit Spiel­sucht ver­mu­tet und han­deln möch­te, fin­det unter der Num­mer 0800 1 37 27 00 der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung kos­ten­freie Aus­kunft und Bera­tung zu Glücksspielsucht.)