Kategorien
Interview

Düzen Tekkal – ein Gespräch über unsere Demokratie und persönlichen Aktivismus

"Wer die AfD wählt, wählt in vol­lem Bewusst­sein rechts. Wir haben das viel zu lan­ge schlei­fen las­sen mit: 'Wir müs­sen die ver­ste­hen …' Wir müs­sen gar nichts. Wir müs­sen jetzt die Demo­kra­tie ret­ten. Punkt." – Düzen Tek­kal im Gespräch über die poli­ti­sche Situa­ti­on und per­sön­li­che Verantwortung.

Wir schrei­ben Sams­tag, den 7. Okto­ber 2023, als die Hamas bei einem ter­ro­ris­ti­schen Angriff hun­der­te mehr­heit­lich israe­li­sche Zivilist:innen ermor­det und vie­le wei­te­re ent­führt. Isra­els Ant­wort auf die Atta­cken ist ein Gegen­schlag, der in einem bis heu­te andau­ern­den Krieg mündet. 

Wir schrei­ben Sonn­tag, den 9. Juni 2024, als rech­te Par­tei­en län­der­über­grei­fend ihren Sie­ges­zug mit his­to­risch star­ken Wahl­er­geb­nis­sen bei der Euro­pa­wahl been­den. Hier­zu­lan­de erreicht die Alter­na­ti­ve für Deutsch­land über 15 Pro­zent, in Frank­reich löst Prä­si­dent Emma­nu­el Macron das Par­la­ment auf und ruft zu Neu­wah­len auf. 

Wir schrei­ben Mon­tag, den 8. Juli 2024, als rus­si­sche Rake­ten in einem ukrai­ni­schen Kin­der­kran­ken­haus in Kiew einschlagen.

Was bei all die­sen Ereig­nis­sen mit­schwingt, ist ein läh­men­des Gefühl der Hilf­lo­sig­keit. Hilf­lo­sig­keit gegen­über Gräu­el­ta­ten, die unse­re Vor­stel­lungs­kraft über­stei­gen. Hilf­lo­sig­keit gegen­über dem immer grö­ßer wer­den­den Ein­fluss extre­mer Par­tei­en. Hilf­lo­sig­keit und die schie­re Hand­lungs­un­fä­hig­keit, etwas unter­neh­men zu kön­nen, was hilft. Wie will man als Ein­zel­per­son etwas ändern? Wie kann man sich soli­da­ri­sie­ren und für eine bes­se­re Welt kämp­fen? Wie fin­det man die Ener­gie dafür? All das sind Fra­gen, die Düzen Tek­kal und ihre Schwes­tern kol­lek­tiv und Tag für Tag, immer und immer wie­der beschäf­ti­gen und ange­hen. Mit ihrer Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on HÁWAR.help geht die Akti­vis­tin und frü­he­re Kriegs­be­richt­erstat­te­rin dahin, wo Hil­fe am nötigs­ten gebraucht wird. Ob Wer­te­dia­lo­ge zwi­schen jüdi­schen und mus­li­mi­schen Schüler:innen, Mes­sen für geflüch­te­te Men­schen auf Job­su­che oder Reden auf den größ­ten Demons­tra­tio­nen des Lan­des – Düzen Tek­kal kämpft für ihren Pur­po­se, für ihren "Ger­man Dream", für eine bes­se­re Zukunft. Im Inter­view mit uns spricht sie nicht nur über ihr Demo­kra­tie­ver­ständ­nis, son­dern auch dar­über, wie man selbst aktiv wer­den und Ver­än­de­run­gen im eige­nen Rah­men star­ten kann. Wir woll­ten außer­dem wis­sen, wie man sich in die­sem stän­di­gen Kampf nicht selbst ver­liert und Self­ca­re betreibt, um die Hoff­nung auf eine schö­ne­re Zukunft bei all den Kri­sen nie zu verlieren.

MZEE​.com​: Wenn man sich sowohl dei­nen per­sön­li­chen Lebens­weg als auch dei­nen beruf­li­chen Wer­de­gang genau­er ansieht, ste­chen zwei Punk­te beson­ders her­aus: Es wur­de dir nicht leicht gemacht und du machst es dir selbst auch nicht leicht. Damit mei­ne ich: In Deutsch­land auf­zu­wach­sen, ist mit dei­ner Fami­li­en­ge­schich­te sicher­lich nicht ein­fach gewe­sen. Und die Beru­fe, die du aus­übst, tra­gen immer auch eine gewis­se "Schwe­re" in sich – die The­men dei­ner Fil­me, dei­ne poli­ti­sche Arbeit auch im Bun­des­tag, die Grün­dung der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on HÁWAR.help, die The­men dei­ner Bücher. Glaubst du, dass es mit dei­ner Geschich­te und dei­nen per­sön­li­chen Erfah­run­gen gar nicht anders mög­lich war, als dein Leben so sinn­stif­tend zu gestalten?

Düzen Tek­kal: Erst ein­mal dan­ke für die sehr schö­ne Fra­ge. Inter­es­sant, wie du das beschrie­ben hast – vor allem den Aspekt, dass ich es mir selbst auch nicht leicht mache. Das merkt man in dem ein oder ande­ren Moment ja selbst gar nicht, son­dern erst in der Rück­be­trach­tung. (über­legt) Die Fra­ge ist ja: Sind wir grund­sätz­lich auf der Welt, um uns das Leben indi­vi­du­ell ein­fa­cher zu machen? Ich glau­be nicht. Natür­lich haben wir auch die Ver­ant­wor­tung, uns das Leben schön zu machen. Ich glau­be aber, dass mei­ne Sozia­li­sa­ti­on und Iden­ti­tät eine gro­ße Rol­le spie­len für das, was ich heu­te tue. Für mei­ne Beru­fung und die Auf­ga­ben, die mich gefun­den haben. Weil ich in mei­ner Iden­ti­tät und mei­nen Wün­schen nie selbst­ver­ständ­lich war. Bei­de wur­den ein­ge­schränkt. Bei­de wur­den bekämpft. Bei­de wur­den her­aus­ge­for­dert. Und wer­den es bis heu­te. Denn jetzt kom­men wir in einem Jahr  zusam­men, in dem Recherche-​Ergebnisse von Cor­rec­tiv ver­öf­fent­licht wur­den, in denen Tei­le der Gesell­schaft beschlos­sen haben, dass wir nicht erwünscht sind und aus All­machts­fan­ta­sien Rea­li­tä­ten wer­den. Wo der Rechts­ruck, in dem wir uns welt­weit befin­den, mit­tel­ba­re Fol­gen hat. Dass mein Leben im Aus­nah­me­zu­stand und in Gefahr ist – und dass ich nicht erwünscht bin: Mit die­sem Gefühl bin ich auf­ge­wach­sen. Des­we­gen wuss­te ich auch, dass Frei­heit, Selbst­be­stim­mung und Frie­den nichts Selbst­ver­ständ­li­ches sind, son­dern man dafür kämp­fen muss. Und all das beant­wor­tet dann auch die Fra­ge: Wegen all dem muss­te ich mei­nem Leben die­sen Sinn geben und hat­te aus mei­ner Sicht in der Rück­be­trach­tung gar kei­ne ande­re Wahl. Der Akti­vis­mus ist alter­na­tiv­los, wür­de ich sagen – und auch etwas, was mei­ne Schwes­tern und ich tei­len. Ich arbei­te ja mit vier mei­ner Schwes­tern zusam­men – wir sind zwar kei­ne HipHop-​Band, son­dern Akti­vis­tin­nen, aber ich glau­be, dass es tat­säch­lich vie­le Par­al­le­len zu Hip­Hop gibt. Das war auch der Grund, war­um ich die­ses Inter­view mit euch machen woll­te: Weil es ganz vie­le Men­schen da drau­ßen gibt, die sich die Fra­gen stel­len, wer sie sind, wel­che Auf­ga­be sie haben und wo sie hin­ge­hö­ren. Und es geht in die­sen gegen­wär­ti­gen Kri­sen – ob das der Israel-​Palästina-​Konflikt ist oder es welt­wei­te Kri­sen sind – auch sehr viel um Iden­ti­tä­ten. Des­halb ist das, was wir erle­ben, gera­de auch auf allen Sei­ten so schmerzhaft.

MZEE​.com​: Du hast gera­de in Bezug auf dei­nen Akti­vis­mus gesagt, dass er alter­na­tiv­los ist. Im End­ef­fekt müss­te es ja vie­len Men­schen so gehen, die in Deutsch­land leben. Eigent­lich müss­ten sie die Pri­vi­le­gi­en erken­nen, spü­ren, dass es einem im Ver­gleich sehr gut geht, dar­auf auf­merk­sam wer­den, dass es vie­len ande­ren Men­schen eben nicht so geht, und aus Empa­thie her­aus han­deln. Woher kommt die Vehe­menz, mit der du für bestimm­te The­men ein­stehst, und was hält ande­re Men­schen davon ab, die­se The­men mit dem glei­chen Antrieb zu verfolgen? 

Düzen Tek­kal: In mei­nen Augen hat das viel mit Angst zu tun und der Bewer­tung von außen. Dass wir uns die­sen Wider­stands­geist zu wenig zutrau­en. Das Gefühl zu haben, nicht aus­zu­rei­chen, dass wir nicht genug sind. Dass wir wackeln, weg­kip­pen, gecan­celt wer­den könn­ten. Was mich geret­tet hat, war bis heu­te immer mein Pur­po­se: Wenn du tust, wovon du über­zeugt bist, und es mit Lie­be tust, ist es eigent­lich nicht zer­stör­bar. Sprich: Wenn du für etwas bekämpft wirst, hin­ter dem du nicht stehst, kannst du ganz schnell aus der Kur­ve flie­gen. Aber wenn du einen inne­ren Pur­po­se hast oder einer tie­fen Über­zeu­gung folgst, einer Idee, die grö­ßer ist als du selbst, dann pas­siert etwas ganz Span­nen­des, wenn du ange­grif­fen wirst: Du wirst noch stär­ker. Das ist das, was wir gera­de erle­ben, weil wir auf die­sem Minen­feld groß gewor­den sind. (Anm. d. Red.: Mit "wir" sind Düzen Tek­kal und ihre Schwes­tern gemeint.) Und weil wir eine psy­chi­sche Wider­stands­kraft, eine Resi­li­enz dafür haben, wenn einem das Leben unan­ge­nehm gemacht wird. Mei­ne For­mel ist, kei­ne Angst davor zu haben. Gera­de auch vor dem unan­ge­neh­men Teil oder der Kon­fron­ta­ti­on. Ich wür­de sogar sagen, dass der Sinn in unse­rem Leben ist, genau dar­um zu rin­gen. Und dass ich fest­ge­stellt habe: Immer dann, wenn es wich­tig und rele­vant wird, wenn es um etwas geht, wird es auch wahn­sin­nig unan­ge­nehm. Aber das durch- und aus­zu­hal­ten und das Gefühl danach – das ist für mich tat­säch­lich sinn­stif­tend. Das bedeu­tet aber nicht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen oder dass wir nicht kom­pro­miss­fä­hig sind und nicht über unse­ren Tel­ler­rand hin­aus­den­ken. Ich mer­ke das auch ganz kon­kret beim Israel-​Palästina-​Konflikt, bei dem ich mit unter­schied­lichs­ten Grup­pen zu tun habe und für jede:n dank­bar bin, die:der ande­rer Mei­nung ist als ich. Die:Der eine ande­re Posi­ti­on ver­tritt und es schafft, ver­nünf­tig mit mir zu reden. Ich wür­de nie jeman­den dafür ver­ach­ten, anders auf die Situa­ti­on zu bli­cken. Denn ich fin­de, gera­de als Nicht-​Betroffene ist es unser Auf­trag, in Soli­da­ri­tät, Wohl­wol­len und Lie­be zu blei­ben. Es ist ein ganz gro­ßer Irr­tum im Freizeit-​Aktivismus, zu glau­ben, dass man wütend und unver­söhn­lich sein muss. Das ist nicht der Akti­vis­mus, für den wir ein­ste­hen. Für uns geht es um Grau­tö­ne und wie wir es schaf­fen, Brü­cken zu bau­en und Spal­tungs­dy­na­mi­ken zu über­win­den. Ich mer­ke das auch in unse­rer Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on: Da gibt es vie­le unter­schied­li­che Posi­tio­nen – aber ich fin­de, es ist ein Geschenk, wenn wir es schaf­fen, uns wei­ter etwas zuzu­mu­ten. Uns nicht von Leu­ten zu tren­nen, die ande­rer Mei­nung sind, und dann eige­ne Echo­kam­mern zu bil­den. Das ist nicht Sinn der Sache. Wir mer­ken ja gegen­wär­tig, dass wir genau das Gegen­teil von dem machen müs­sen. Ich glau­be auch, dass wir uns als Gesell­schaft jetzt ganz anders ver­hal­ten müs­sen: Wir müs­sen viel lau­ter wer­den. Unse­re Demo­kra­tie droht zer­setzt zu wer­den, von innen und von außen. Von Demokratiegegner:innen, Verfassungsfeind:innen im Inland. Aber auch von Des­po­tien und Unrechts­re­gi­men im Aus­land. Für mich ist völ­lig klar, dass wir jetzt ins Han­deln gehen müs­sen. Und das ist, was wir täg­lich tun und ver­su­chen, vorzuleben.

MZEE​.com​: Hast du manch­mal das Gefühl, dass zu vie­le Men­schen unse­rer Gesell­schaft den­ken: "Den Akti­vis­mus über­las­se ich den ande­ren, die wer­den das schon regeln"? Und dass es lang­sam an der Zeit ist, vom Sofa auf die Stra­ße zu kommen?

Düzen Tek­kal: Bei­des. Auch immer ganz viel Geme­cker: Die da oben, die da unten. Ich sehe gera­de aber auch sehr vie­le Men­schen, die sagen, dass es so nicht wei­ter­ge­hen kann. Und wirk­lich Kon­se­quen­zen zie­hen. Ich hab' Leu­te in mei­nem Umfeld, die gut dotier­te Jobs kün­di­gen, weil sie sagen: "Wir müs­sen was gegen den Demo­kra­tie­zer­fall tun. Ich will jetzt mei­ne Zeit, Res­sour­cen und Netz­wer­ke der rich­ti­gen Sache wid­men." Und das ist ein Rie­sen­ge­schenk, das wir gera­de haben. Ich glau­be, wir waren noch nie so poli­ti­siert wie gegen­wär­tig. Es ist ein wahn­sin­ni­ges Kraft­feld, das da auf­geht. Natür­lich tun wir trotz­dem alle immer noch viel zu wenig – sonst wären wir nicht da, wo wir gegen­wär­tig sind. Und es gibt vie­le Men­schen, vor allem die Betrof­fe­nen, die müde sind, mür­be. Die kei­nen Bock mehr haben, zu erzäh­len, wovor sie Angst haben, war­um sie auf gepack­ten Kof­fern sit­zen – und jetzt krie­gen wir die gan­zen Bewei­se. Aber es darf nicht zu spät sein. Unse­re His­to­rie hat uns gelehrt, dass wir nicht erst dann auf­be­geh­ren müs­sen, wenn wir selbst betrof­fen sind, son­dern auch für unse­re Mit­men­schen. Das ist die Soli­da­ri­tät, die über die eige­ne Betrof­fen­heit hin­aus­ge­hen muss, das ist der Mus­kel, der uns interessiert.

MZEE​.com​: Du wirkst immer ziem­lich posi­tiv. Denkst du den­noch, dass es für die Demo­kra­tie in Deutsch­land irgend­wann zu spät sein könnte?

Düzen Tek­kal: Ich fin­de, die­sen Welt­schmerz kön­nen wir uns nicht erlau­ben. Schon gar nicht als Pri­vi­le­gier­te. Wir sind nicht vom Krieg betrof­fen, von Unter­drü­ckung, Ver­fol­gung und Völ­ker­mord, wie ich es als Kriegs­be­richt­erstat­te­rin ken­ne. Wie trau­rig wäre es, wenn ich unse­rer Demo­kra­tie eine Absa­ge ertei­len wür­de? Ich wür­de mir damit gleich­zei­tig die Grund­la­ge ent­zie­hen, aktiv zu han­deln. Das ist nicht das, wofür ich ste­hen will. Wir haben eine gan­ze Bil­dungs­in­itia­ti­ve, die Ger­man Dream heißt. Es gibt ganz vie­le, die das angrei­fen und sagen: "Ich glaub' nicht an den Ger­man Dream!" Doch allein das ist schon eine Luxus­aus­sa­ge. Denn: Was soll das hei­ßen, du glaubst nicht an den Ger­man Dream? Heißt das jetzt, wir geben uns auf? Heißt das jetzt, wir suh­len uns in Nega­ti­vi­tät und reden wei­ter über die Ger­man Angst? Ich weiß auch, dass der Ger­man Dream noch nicht erreicht ist. Das heißt aber nicht, dass wir nicht den Ver­such unter­neh­men, solan­ge wir leben. Und unser Prin­zip ist, dass Auf­ge­ben kei­ne Opti­on ist. Das heißt nicht, dass ich mit 'nem Super­lä­cheln und Super­op­ti­mis­mus durch die Gegend ren­ne. Im Gegen­teil: Ich hab' auch unter­schied­li­che Pha­sen. Ins­be­son­de­re Ende letz­ten Jah­res hat es mich rich­tig raus­ge­knallt. Das alles geht auch an mir nicht spur­los vor­bei. Gera­de mit den gan­zen Gegensatz-​Spannungen, wenn Men­schen ent­grenzt sind und belei­di­gen. Ich hab' Mord­dro­hun­gen bekom­men, Sicher­heits­be­hör­den haben sich ein­ge­schal­tet. Mein Leben hat sich durch den Akti­vis­mus auch ver­än­dert und da braucht es eine tie­fe Über­zeu­gung, um den Sinn zu fin­den, wei­ter­zu­ma­chen. Aber bevor ich mir die Fra­ge stel­le, ob ich es las­sen soll­te, möch­te ich alles ver­su­chen – auch gemein­sam als Gesell­schaft –, um zu eru­ie­ren, was wir tun kön­nen, um das zu ret­ten. Tat­säch­lich gibt es auch viel mehr inner­li­che Freu­de, wenn wir für das Gute ein­ste­hen, uns nicht immer nur abar­bei­ten. Das ken­nen wir ja alle: Wenn wir anfan­gen, uns über Din­ge zu ärgern, ist das wahn­sin­nig destruk­tiv und belas­tet uns selbst mit am meis­ten. Alles, was an Ärger raus­ge­hen soll, rich­tet sich wie ein Bume­rang gegen uns selbst. Und dafür haben wir kei­ne Zeit. Der Tag hat nur 24 Stun­den und wir tref­fen jeden Mor­gen die Ent­schei­dung, womit wir die­se Zeit nut­zen wol­len. Ich erwi­sche mich manch­mal dabei, dass es destruk­tiv wird, wenn ich mich über irgend­was oder -wen ärge­re. Aber das kann ich nicht lan­ge machen. Nach einer hal­ben Stun­de wer­de ich direkt wie­der gefor­dert: "Hey, wir brau­chen dich jetzt." Und gebraucht zu wer­den, kann wirk­lich dage­gen helfen.

MZEE​.com​: Seit ein paar Jah­ren befin­den wir uns auch in Mit­tel­eu­ro­pa in sehr beweg­ten Zei­ten und die Situa­ti­on spitzt sich stän­dig wei­ter zu. Ob wir von Coro­na oder den Krie­gen in Euro­pa und im Nahen Osten spre­chen, vom Iran oder aktu­el­len Wah­len. Es scheint logisch, sich die Fra­ge zu stel­len, wie es wei­ter­ge­hen und "wie­der bes­ser wer­den" soll. Was gab dir per­sön­lich Halt und Hoff­nung in den letz­ten Jah­ren? Wor­aus schöpfst du dei­ne Kraft und die Stär­ke, den Mut nicht zu verlieren?

Düzen Tek­kal: Ich hab' ja schon ein paar Jah­re Erfah­rung in dem, was ich mache. Ich sage das, weil ich weiß, dass man den Preis, den man für Akti­vis­mus zahlt, am Anfang nicht ein­preist. Der kommt neben­bei – und zwar mit gro­ßer Wucht und einem Schat­ten. Aber das Geschenk ist, dass man da rein­wächst. Ich weiß, dass ich in den Anfangs­jah­ren viel schlech­ter zu mir selbst war. Ich hab' den Druck ver­la­gert, mich dafür bestraft, dass es ande­ren Men­schen nicht gut ging. Ich bin in eine Parallel-​Co-​Abhängigkeit gegan­gen, weil ich so viel mit IS-​Überlebenden zu tun hat­te, und hab' mir plötz­lich auch ver­bo­ten, zu leben. Und das ist eigent­lich genau gegen das Man­tra, für das wir ste­hen: "Jin, Jiyan, Azadi – Frau­en, Leben, Frei­heit". Ein Leit­spruch der kur­di­schen Frei­heits­be­we­gung, mit dem ich auf­ge­wach­sen bin. Das "Ja" zum Leben und zur Lebens­freu­de. Das kann man nur leis­ten, indem man auf sich ach­tet. Das heißt, ich muss­te ler­nen, trotz all dem Pur­po­se eine Art Self­ca­re zu betrei­ben. Eine See­len­hy­gie­ne, eine Schön­heit für mich selbst. Ein Man­tra ist zum Bei­spiel, weder Gesund­heit noch Schön­heit für den Akti­vis­mus zu opfern. Das hat kei­nen ego­is­ti­schen Grund, son­dern ist etwas ganz Prag­ma­ti­sches. Was mir gehol­fen hat, war einer­seits Selbst­lie­be, die kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit ist. Vie­le Men­schen strugg­len mit ihr ja aus unter­schied­li­chen Grün­den … Als ich dar­an gear­bei­tet habe, hab' ich auch gemerkt, dass mir das ein Gefühl von Ein­sam­keit nimmt. Eine Auf­ga­be oder Bestim­mung zu haben, kann ja auch ein­sam sein. Immer wei­ter­zu­ma­chen, wenn ande­re zu den Kin­dern fah­ren oder in den Fei­er­abend gehen. Ande­rer­seits half mir natür­lich, mir eine Men­schen­rechts­fa­mi­lie zu suchen. Eine Armee der Soli­da­ri­tät von Men­schen, die mich lie­ben für das, was ich bin. Ich brau­che kei­ne Leu­te, die mir pri­vat auch noch erzäh­len, was sie alles schei­ße fin­den und nicht akzep­tie­ren. Oder dass sie hier­mit und damit nicht ein­ver­stan­den sind. Auch ich habe den Anspruch, im Pri­va­ten mal auf­ge­fan­gen zu wer­den. Mal nicht über Schmerz und Poli­tik reden zu müs­sen. Son­dern ein­fach ober­fläch­lich über Trash zu labern, gar nichts zu sagen oder einen Film zu gucken. Ein­fach von Men­schen umge­ben zu sein, die dich lie­ben. Da habe ich eine Hand­voll von. Und dann habe ich natür­lich die­se Super­fa­mi­lie. (lächelt) Mei­ne Schwes­tern, das ist die Kern­fa­mi­lie in der Fami­lie. Wir sind sozu­sa­gen noch mal eine eige­ne Fami­lie, weil wir die­se Ver­ei­ne gemein­sam gegrün­det haben. Das Schöns­te, was es für mich gibt, ist, mor­gens auf­zu­ste­hen und zu wis­sen, dass ich mit den Men­schen, die ich lie­be, an einer bes­se­ren Welt und Zukunft arbei­ten darf – für ande­re. Vor ein paar Tagen sind wir zu Fuß ins Büro gegan­gen. Wir woh­nen alle in einer Gegend, ich bin rüber zu den Mädels und wir haben sofort laut dis­ku­tiert. Da muss­te ich lachen, weil ich merk­te, dass sich nichts geän­dert hat. Wir sind immer noch wie frü­her, als wir gemein­sam in die Schu­le muss­ten. Nur, dass wir jetzt mit ein paar Leu­ten mehr arbei­ten und mitt­ler­wei­le über 70 Mit­ar­bei­ten­de haben. Eine Orga­ni­sa­ti­on und Bil­dungs­be­we­gung. Zusam­men in den Tag star­ten und Her­aus­for­de­run­gen meis­tern. Wenn mir etwas pas­siert, dann trifft das alle – wir sind ja kol­lek­ti­vis­tisch geprägt. Das heißt, wenn es gegen mei­ne Schwes­ter geht, geht es gegen mich. Das ist das Kol­lek­ti­ve bei uns. Ich gebe auch zu, dass das eine Ein­heit ist. Frü­her habe ich immer so getan, als wären wir alle wahn­sin­nig indi­vi­du­ell. Sind wir auch, aber es gibt einen ganz fes­ten Kitt. Und wer sich mit mir anlegt, der legt sich mit allen an – umge­kehrt genau­so. Das gilt im bes­ten Fall nicht nur für die Schwes­tern­schaft, son­dern für die Gemein- und Gesell­schaft. Ich hab' sehr viel Hass abbe­kom­men in den letz­ten Mona­ten, aber auch genau­so viel Lie­be. Die habe ich auch emp­fan­gen, zuge­las­sen und gese­hen. Und die brau­chen wir auch, sonst bre­chen wir zusammen.

MZEE​.com​: The­ma Self­ca­re: Hast du irgend­wann ange­fan­gen, Din­ge anders zu machen? Wir ken­nen es ja alle, dass wir bestimm­te Denk­mus­ter haben – wie uns dau­ernd über Klei­nig­kei­ten auf­re­gen –, aber sie trotz unse­res Wis­sens über sie nicht able­gen können.

Düzen Tek­kal: Das ist das Pro­blem: In dem Moment, in dem wir über­zie­hen, fan­gen wir an, zu uns selbst nicht gut zu sein. Das liegt auch an unse­rem Stres­spen­sum: Wenn wir in die­se Minus­zo­ne kom­men, wird es nur noch destruk­tiv. Ich habe erst spät begrif­fen, dass das eben auch viel mit Struk­tur und einem Pen­sum zu tun hat. Ich dach­te immer: "Ja, ich bin nicht gut zu mir … weil ich nicht gut bin." Dass das aber dar­an lag, dass ich mir zu viel zuge­mu­tet habe – dar­über habe ich nicht nach­ge­dacht. Und dass es genau dann pas­siert, wenn ich Din­ge mache, die ich eigent­lich gar nicht machen will. Man muss ler­nen, intui­tiv in sich hin­ein­zu­hö­ren und zu fra­gen: Wo gehe ich mit? Wo blei­be ich auch bei mei­nem Nein? Dafür brau­che ich per­sön­lich immer wie­der Pha­sen, in denen ich Detox mache – in jeder Hin­sicht. Nicht nur ernäh­rungs­tech­nisch, son­dern auch mensch­lich. Manch­mal brau­che ich ein­fach Inseln wie eine Art Win­ter­schlaf. Inseln, bei denen alles drau­ßen blei­ben muss. Und ich brau­che es auch, guten Gewis­sens Nein zu sagen. Wir leben in einer Gesell­schaft, in der es nur noch um Erwar­tungs­hal­tun­gen geht. Jedes Nein ist aber auch ein Ja zu dir selbst. Nur setzt all das eben Zeit vor­aus. Und ich glau­be, dass wir selbst auch dafür ver­ant­wort­lich sind, zu ent­schleu­ni­gen. Gut zu uns zu sein. Manch­mal brau­chen wir den Druck, das ist ganz klar. Wir sind Kri­sen­ma­na­ge­rin­nen. Und Kri­sen und Krie­ge kün­di­gen sich nicht an. Die sind da und dann müs­sen wir agie­ren. Des­we­gen gibt es bei uns kein nine to five oder dai­ly busi­ness. Jeder Tag ist anders und kann krass sein. Trotz­dem kann man ler­nen, in die­ser Zwi­schen­welt so etwas wie Sicher­heit zu entwickeln.

MZEE​.com​: Ich fin­de es wich­tig und zeit­gleich schwie­rig, zu ler­nen, dass man sich immer mal wie­der selbst prio­ri­sie­ren muss – ohne das Gefühl zu haben, ego­is­tisch zu sein. Und dass nur, wer immer wie­der Pau­sen macht, auch 100 % leis­ten kann. Und ich den­ke, je mehr man sich mit sei­nem Beruf iden­ti­fi­ziert, des­to schwie­ri­ger wird es. Dann gibt es kein: "Es ist 17 Uhr, ich geh' jetzt nach Hau­se und die The­men inter­es­sie­ren mich mor­gen früh wieder."

Düzen Tek­kal: Genau. Und dann ist es Sams­tag. (lacht) Genau das, was du sagst. Also: Lei­den­schaft, die Lei­den schafft. Gera­de bei Men­schen, die lie­ben, was sie tun, ist es erst recht wich­tig, das zu berück­sich­ti­gen. Und sich selbst nicht aus­zu­trick­sen – sich aber auch nicht aus­trick­sen zu las­sen. Das fängt schon bei einer Auf­wands­ent­schä­di­gung dafür an, wenn ich einen Vor­trag hal­te. "Das machst du doch ger­ne – ist ja dein Lebens­the­ma." Ja, das heißt aber nicht, dass er nicht bezahlt wird. Vor allem, wenn Unter­neh­men anfra­gen. Es gibt ja noch genug, was man ehren­amt­lich macht. Ich möch­te nur sagen: Ein gesun­des Selbst­be­wusst­sein und Self­ca­re schüt­zen auch in gewis­ser Wei­se. Aber das sind kei­ne Sachen, die einem vor­her einer erklärt – die muss man selbst ler­nen. Und gera­de, wenn man in den Abgrund guckt, muss man ler­nen, damit umzu­ge­hen. Es geht schnel­ler, als man denkt … Ich muss­te zum Bei­spiel erst den Unter­schied zwi­schen Mit­leid, Mit­ge­fühl und schlech­tem Gewis­sen ken­nen­ler­nen. Auch als Kriegs­be­richt­erstat­te­rin habe ich immer auf­ge­passt, was zuträg­lich ist und genau über­legt: Wie weit gehe ich? Was will ich sehen? Und wo gucke ich für die eige­ne Sicher­heit viel­leicht auch weg? Ob das Kin­der­sol­da­ten waren oder IS-​Überlebende. Es gab Mög­lich­kei­ten, in denen mein Jour­na­lis­tin­nen­herz ganz laut Ja geschrien hat, aber ich als Mensch mich dage­gen ent­schie­den habe. Weil ich wuss­te: Das hat Nach­wir­kun­gen, auch see­li­scher Natur. Und dann hab' ich's gelassen.

MZEE​.com​: Wir haben vor­hin bereits das The­ma "Angst" ange­spro­chen. Seit Jah­ren wird Angst in Bezug auf stei­gen­de Wahl­er­geb­nis­se rechts­po­pu­lis­ti­scher Par­tei­en als ein trei­ben­der Fak­tor bezeich­net. Vie­le Men­schen bekom­men wie­der­um Angst, wenn sie sich aktu­el­le Wahl­er­geb­nis­se anse­hen. Und wie­der­um ande­re arbei­ten auf poli­ti­scher Ebe­ne mit Angst, um ihre Zie­le zu errei­chen. Was, glaubst du, wären Mit­tel, um unse­re Gesell­schaft wie­der mehr zusammenzuführen?

Düzen Tek­kal: Ich glau­be, dass das grund­sätz­lich mit einer Ent­schei­dung zu tun hat: Wir haben uns für Impact ent­schie­den statt Angst. Ich sage das, weil vie­le mit die­ser Angst-​Pädagogik arbei­ten. Sie dient ja auch zum Macht­er­halt und ist das, was Kriegs­trei­ber sich zunut­ze machen: Des­po­tien, Unrechts­re­gime und natür­lich rechts­extre­me, isla­mis­ti­sche und faschis­ti­sche Par­tei­en. Das ein­zi­ge Kraut, das aus mei­ner Sicht dage­gen gewach­sen ist, ist die Wäh­rung des Impacts und des Han­delns. Die Angst wird grö­ßer, wenn wir uns läh­men las­sen. Wenn wir Din­ge las­sen, weil wir Angst haben. Aber der Moment, in dem ich mich den Ängs­ten stel­le, sie über­win­de und über­le­be – das ist ja immer wie­der der Beweis, den man dafür antritt –, stärkt auch das Selbst­wert­ge­fühl. Und die­ses Zen­trum des Wider­stands und Mutes. Ich glau­be, es ist ganz wich­tig zu ver­ste­hen, dass Angst eine Wäh­rung ist, mit der gear­bei­tet wird, um zu herr­schen. Und dem dür­fen wir nicht auf den Leim gehen. Unse­re Mitarbeiter:innen wer­den immer wie­der Mut­pro­ben aus­ge­setzt, die der Beruf mit sich bringt. Bei uns gehört es zum Bei­spiel dazu, dass man unse­re Frau­en­häu­ser in Afgha­ni­stan besucht. Natür­lich wür­den wir nie jeman­den dazu zwin­gen. Aber jede:r unse­rer Mitarbeiter:innen, der:die die­se Regio­nen besucht hat, ist erfüllt und ein Stück­chen muti­ger wie­der­ge­kom­men. Ich glau­be, wir müs­sen da rein – in die Kon­fron­ta­ti­on. In ers­ter Linie ist jede:r, der:die rechts wählt, selbst dafür ver­ant­wort­lich. Ich fin­de es schwie­rig, das als Pro­test­wahl zu ver­klä­ren. Wer die AfD wählt, wählt in vol­lem Bewusst­sein rechts. Und wir haben das viel zu lan­ge schlei­fen las­sen mit: "Wir müs­sen die ver­ste­hen, wir müs­sen …" Wir müs­sen gar nichts. Wir müs­sen jetzt die Demo­kra­tie ret­ten. Punkt. Und so radi­kal, wie die das betrei­ben, müs­sen wir das auch machen. Ganz ein­fach. Und da bringt es nichts, sich in Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen zu ver­lie­ren – das pas­siert dann bei den Lin­ken lei­der sehr oft, was scha­de ist. Wir müs­sen an einem Strang zie­hen und über­le­gen, was denn jetzt unse­re größ­te Auf­ga­be ist. Was ver­bin­det uns als Demokrat:innen? Woge­gen müs­sen wir wirk­lich kämp­fen? Wol­len wir uns jetzt gegen­sei­tig bekämp­fen oder wol­len wir mal anfan­gen, uns um die wesent­li­chen The­men zu küm­mern? Denn wäh­rend wir uns hier selbst oder gegen­sei­tig bekämp­fen, pro­fi­tie­ren ganz ande­re davon, die sich in die Hän­de klat­schen. Das sehe und beob­ach­te ich gera­de mit gro­ßer Sor­ge. Ich hof­fe und bil­de mir ein, dass da neue Bünd­nis­se ent­ste­hen – und das ist genau das, wofür wir uns inter­es­sie­ren. Wir ver­su­chen bei­spiels­wei­se momen­tan, einen bun­des­wei­ten Abschie­be­stopp für Jesid:innen zu erwir­ken. Und dafür brau­chen wir Pro Asyl und Lea­ve No One Behind, dafür brau­chen wir Men­schen, auf die wir zäh­len kön­nen. Das schaf­fen wir nur gemein­sam. Um auch Druck auf poli­ti­sche Entscheidungsträger:innen aus­zu­üben und die­se Selbst­wirk­sam­keit nutz­bar zu machen. Das fin­de ich ganz, ganz wichtig.

MZEE​.com​: Du hast eben davon gespro­chen, dass wir alle unse­re Demo­kra­tie jetzt schüt­zen müs­sen. Abseits der poli­ti­schen Ebe­ne kann man auch selbst im eige­nen Umfeld tätig wer­den: Was sind die Hebel, die wir alle haben, um einen Bei­trag zum Schutz der Demo­kra­tie zu leisten?

Düzen Tek­kal: Ich glau­be, es war nie ein­fa­cher als jetzt – denn wir sind die fünf­te Gewalt. Damit mei­ne ich die Zivil­ge­sell­schaft. Es geht um die Bürger:innen, die Selbst­wirk­sam­keit, die Mün­dig­keit von uns. Dar­um, dass wir Poli­tik machen. Und dass wir in einem Rechts­staat leben, in dem wir von unse­rem Demons­tra­ti­ons­recht Gebrauch machen kön­nen. Wo wir, wenn wir auf die Stra­ße gehen, nicht fürch­ten müs­sen, dafür ins Gefäng­nis zu kom­men. Ich möch­te das Bei­spiel von Roya Hesh­ma­ti nen­nen: Eine jun­ge Kur­din aus dem Wes­ten des Irans, die sich gewei­gert hat, das Kopf­tuch auf­zu­set­zen und dafür 74 Peit­schen­hie­be bekom­men hat. Wäh­rend sie aus­ge­peitscht wur­de, hat sie immer wie­der vor sich hin­ge­sun­gen: "Jin, Jiyan, Azadi." Dann hat sie noch den Mut gehabt, dar­über öffent­lich auf Face­book zu schrei­ben und ist dar­auf­hin wie­der drang­sa­liert wor­den. Wer sind wir, es zu las­sen? Und das kön­nen wir ja dut­zend­fach wie­der­ho­len. Wenn wir an die Frau­en in Afgha­ni­stan den­ken … Sie gehen immer noch auf die Stra­ße, obwohl sie de fac­to zer­stört wor­den sind. Ein­fach nur, weil sie Frau­en sind, wird ihnen jed­we­des Leben genom­men, die Hoff­nung, die Zukunft. Sie müs­sen heim­lich zum Schul­un­ter­richt gehen. Noch mal: Was gibt es bei uns für einen Grund, sit­zen zu blei­ben? Es gibt kei­nen ein­zi­gen. Und da, glau­be ich, kön­nen wir uns auch was bei den Markt­schrei­ern abgu­cken – dass wir das genau­so gut kön­nen. Aber eben für das Rich­ti­ge, für das Gute. Das heißt nicht, dass wir uns als bes­se­re Men­schen sehen und mora­lisch ein­wand­frei sind. Dar­um geht es nicht. Ich glau­be aber schon, dass ein Ruck durch die Gesell­schaft gehen muss und wir begrei­fen müs­sen, dass all die­se Errun­gen­schaf­ten uns ver­pflich­ten, die unse­re Vor­müt­ter und Vor­vä­ter erkämpft haben. Auch auf der Basis, auf der unser Grund­ge­setz ent­stan­den ist – natür­lich auch mit dem größ­ten dunk­len Kapi­tel unse­rer Geschich­te. Sie ver­pflich­ten uns zu einer Ver­ant­wor­tung. Und die gilt es jetzt, greif­bar zu machen. Das ist natür­lich alles ande­re als ein­fach in Zei­ten von Digi­ta­li­sie­rung und Inter­es­sen­ver­tre­tung unter­schied­li­cher Natur und der Tat­sa­che, dass Angst und Gewalt klickt, aber wir müs­sen da etwas gegensetzen.

MZEE​.com​: Um für Ver­än­de­run­gen in der Gesell­schaft zu sor­gen, müss­ten in mei­nen Augen deut­lich mehr Men­schen, die anders den­ken als man selbst, mit eini­gen poli­ti­schen The­men erreicht wer­den. Dabei habe ich das Gefühl, in der Arbeit, dem Freun­des­kreis und auch auf Demons­tra­tio­nen sehr in einer Bla­se mit Gleich­ge­sinn­ten zu sein. Wie kön­nen wir gene­rell Men­schen errei­chen, die uns in unse­ren Ansich­ten eben nicht beson­ders ähn­lich sind?

Düzen Tek­kal: Ich glau­be, wir müs­sen dafür auch das Inter­net ver­las­sen. Es geht um die­se per­sön­li­che Macht und Kraft der Begeg­nung. Mit unse­ren Ger­man Dream-​Bussen machen wir ja bei­spiels­wei­se sehr viel in den neu­en Bun­des­län­dern. Es geht dabei dar­um, in den Aus­tausch und Dia­log zu gehen, sich etwas zuzu­mu­ten. Die schöns­ten und anstren­gends­ten Begeg­nun­gen sind immer die mit Men­schen, die ganz ande­rer Mei­nung sind. Denn die Debat­te, den Streit, der in unse­rer Gesell­schaft eigent­lich immer selbst­ver­ständ­lich war, zuzu­las­sen und da kei­ne Harmonie-​Soße drauf­zu­pa­cken oder die Schwei­ge­spi­ra­le zu füt­tern, indem wir uns nur noch unter unse­res­glei­chen bewe­gen – dar­an wach­sen wir ja. Mich inter­es­siert gera­de bei The­men, bei denen ich ganz ande­rer Mei­nung bin: War­um sieht jemand das anders? Und das ein­fach auch mit die­sem Anspruch an Men­schen­wür­de. Ohne, dass wir anfan­gen, zu dämo­ni­sie­ren. Ohne, dass wir mit dem Fin­ger auf ande­re zei­gen und sagen: "Die haben es nicht ver­stan­den, die sind dumm!" Denn wir gehen ganz schnell in eine abwer­ten­de Hal­tung, wenn wir uns nicht ver­stan­den füh­len. Ich will die­sem ers­ten Gefühl aber nicht erlie­gen, son­dern trotz­dem sagen: "Ok, da geht es um eine ande­re Form von Iden­ti­tät. Ich will das ver­ste­hen, wor­um geht's da genau?" Meis­tens steckt ja sehr viel mehr dahin­ter. Am Ende hat es auch was damit zu tun, dass wir die Pro­ble­me nicht lösen. Und es gibt genug Pro­ble­me. Den­ken wir an den Bil­dungs­sek­tor, an das The­ma Wohn­raum, die sozia­le Unge­rech­tig­keit, das The­ma Erwerbs­tä­tig­keit. Das spielt alles mit hin­ein. Und ich glau­be, die Men­schen sind am Ende des Tages gar nicht so schwer zu lesen. Es geht ihnen um Hoff­nung, Sicher­heit, Per­spek­ti­ven, Gemein­schaft. Wir sind auf­ein­an­der ange­wie­sen, von­ein­an­der abhän­gig und müs­sen uns noch kon­kre­ter um die Pro­ble­me küm­mern. Dann kann man dem Popu­lis­mus auch etwas ent­ge­gen­set­zen. Und ich glau­be auch, in unse­rer Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit, unse­rem Agen­da­set­ting, dür­fen wir ruhig noch radi­ka­ler und muti­ger werden.

MZEE​.com​: Mit eurer Bil­dungs­in­itia­ti­ve Ger­man Dream wer­den Wer­te­dia­lo­ge an Schu­len initi­iert. Kurz nach dem 07. Okto­ber fand ein Schul­be­such statt, bei dem du im Ange­sicht des Kriegs im Nahen Osten mit paläs­ti­nen­si­schen und jüdi­schen Schüler:innen gespro­chen hast, um "ihrer Wut Raum zu geben". Wie muss man sich das Gan­ze vor­stel­len? Was führt zu einem kon­struk­ti­ven Dia­log, wenn solch unter­schied­li­che Mei­nun­gen und Emo­tio­nen aufeinandertreffen?

Düzen Tek­kal: Es geht dar­um, Ver­trau­en zu schaf­fen. Das war in einer Pha­se, in der sehr vie­le Men­schen in Schmerz waren – vor allem die Betrof­fe­nen. Es waren jun­ge Men­schen, deren Ange­hö­ri­ge zeit­gleich getö­tet wur­den. Wo der Anti­se­mi­tis­mus an Ober­hand gewon­nen hat, genau­so wie par­al­lel die Mus­lim­feind­lich­keit. Es ging dar­um, mit die­ser Wür­de rein­zu­ge­hen. Ich kann mich dar­an erin­nern, dass eine paläs­ti­nen­si­sche Schü­le­rin gesagt hat, dass sie vor dem Wer­te­dia­log Angst hat­te. Weil sie selbst das Gefühl und Vor­ur­teil hat­te: Es geht wie­der nur um Isra­el, wir inter­es­sie­ren die Leu­te nicht und wir wer­den ja eh alle über einen Kamm geschert. Das hat sie ganz offen und ehr­lich gesagt, doch in dem Dia­log ist eigent­lich das Gegen­teil pas­siert: Es ist für sie und ihren Schmerz sehr viel Raum ent­stan­den. Da sind auch Trä­nen geflos­sen. Auch kur­di­sche und ira­ni­sche Mäd­chen waren da. Es gab sehr vie­le selbst­kri­ti­sche Fra­gen. Und unse­re Auf­ga­be war es, die­sen Raum des Ver­trau­ens ohne Bewer­tung zuzu­las­sen. Dann hat sich der Rest eigent­lich von allein ent­wi­ckelt. Damit haben wir nicht den Nahost-​Konflikt gelöst. Aber ich bin mir sicher, dass es bei eini­gen Schü­le­rin­nen und Schü­lern – genau­so wie bei uns – nach­ge­wirkt hat. Und dass auch eine Art Ver­trau­ens­raum ent­stan­den ist und ein Gefühl von: "Ich sehe dei­nen Schmerz." Das ist das, was uns inter­es­siert: dass nicht über­ein­an­der, son­dern mit­ein­an­der gere­det wird. Und das ist das, was uns bei den Wer­te­dia­lo­gen von der Feind-​Freund-​Bildung im Inter­net unter­schei­det. Des­halb haben wir gera­de eine gro­ße Nach­fra­ge. Es ist ein Gegen­nar­ra­tiv, das wich­tig ist. Es geht um Ori­en­tie­rung, Iden­ti­täts­stif­tung, Hei­mat. Es geht um Sicher­heit. Es geht auch um das Gefühl, ob man gewollt ist oder nicht. Ich glau­be, dass bei sehr vie­len Men­schen gera­de ganz viel zusam­men­bricht – Wut ent­steht ja auch durch Angst. Wir arbei­ten bei unse­ren Dia­lo­gen mit sehr erfah­re­nen Päd­ago­gen zusam­men und gera­de bei jun­gen Män­nern sehe ich oft, dass da etwas ver­wan­delt wird.

MZEE​.com​: Der Ger­man Dream wur­de heu­te oft erwähnt – Eko Fresh hat den Begriff mit sei­nem gleich­na­mi­gen Label inner­halb der deut­schen HipHop-​Szene geprägt. Wir haben mit­be­kom­men, dass du auch einen HipHop-​Bezug hast – einer­seits hörst du Rap, ande­rer­seits hast du Rap­per inter­viewt, die einen ähn­li­chen Back­ground haben wie du. Und du hast zu Beginn des Inter­views schon die Par­al­le­len zwi­schen der HipHop-​Kultur und dei­ner Arbeit als Akti­vis­tin erwähnt. Kannst Du sie noch ein wenig mehr ausführen?

Düzen Tek­kal: Auf jeden Fall. Die HipHop-​Kultur ist ja auch eine Ant­wort auf Miss­stän­de. Auf Zustän­de, die man nicht mehr akzep­tiert hat. Hip­Hop ist ja Poli­tik. Eigent­lich eine der wich­tigs­ten Wäh­run­gen gegen Ras­sis­mus. "Eigent­lich", weil ich manch­mal das Gefühl habe, dass es ver­ges­sen wor­den ist. Und das gro­ße Den­ken und Träu­men … Ich den­ke schon, dass es Par­al­le­len gibt. Die Idee vom Ger­man Dream, die damals durch Eko Fresh ins Leben geru­fen wur­de, ist auch die Idee hin­ter die­ser Bil­dungs­be­we­gung. Dass wir ein kol­lek­ti­ver Ger­man Dream sind und gemein­sam die Ger­man Angst über­win­den müs­sen. Und dass das auch oft Grup­pen sind, die aus mar­gi­na­li­sier­ten Ver­hält­nis­sen kom­men, aber was aus ihrem Schick­sal gemacht haben. Die mit ihrer eige­nen Kraft­an­stren­gung da raus­ge­kom­men sind. Was die Gesell­schaft nicht von einer grund­sätz­li­chen Ver­ant­wor­tung ent­bin­det. Was uns ver­bin­det, ist viel­leicht die Wut über die Miss­stän­de. Aber es geht dar­um, wie wir Wut in Mut und Kraft kana­li­sie­ren. Kei­ne destruk­ti­ve Wut, son­dern: Wie kann ich die­ses Ener­gie­feld auf­ma­chen, um damit etwas zu ver­än­dern? Des­we­gen sehe ich da wahn­sin­nig vie­le Par­al­le­len. Und mein Tag beginnt mor­gens immer mit HipHop-​Musik. (lächelt) Das pusht mich auch. Das ist etwas, was ich brau­che und mir abge­guckt habe. Wenn man nach Ame­ri­ka guckt, kann man vie­les kri­ti­sie­ren und ich möch­te es auch nicht ver­klä­ren. Aber ein Bild mag ich: das "Groß-​Denken" und das Schick­sal in die Hand zu neh­men. Und was zu ver­su­chen, nicht zu war­ten. Das gefällt mir und ich fin­de, wir brau­chen mehr von die­sem Ger­man Dream-Spirit.

MZEE​.com​: Wir haben nun viel dar­über gespro­chen, was du aus dei­nem Leben gemacht hast und gewor­den bist. Zum Abschluss wür­den wir ger­ne noch einen Blick in dei­ne Ver­gan­gen­heit wer­fen: Was war dein größ­ter Traum als Kind und was woll­test du werden?

Düzen Tek­kal: (lächelt) Ich weiß, es klingt wie ein Ger­man Dream, aber ich woll­te genau das wer­den, was ich heu­te bin. Ich woll­te gese­hen und gehört wer­den. Und ich hab' nie Gren­zen akzep­tiert. "Das geht nicht" war der Satz, der mich immer getrig­gert hat. Ich will der Welt zei­gen, dass es geht. Es geht alles. Und dafür muss man auf jeden Fall viel kämp­fen, viel ris­kie­ren und viel Zeit inves­tie­ren. Aber das ist genau das rich­ti­ge Leben. Als ich klein war, hab' ich von genau die­sem Leben geträumt, das ich jetzt füh­ren darf – gemein­sam mit mei­nen Schwes­tern. Das heißt: Wir tei­len unse­re Kind­heit, aber auch unse­re Träu­me und hof­fent­lich auch unse­re Zukunft. Und ver­su­chen, auch vor­zu­le­ben, was es bedeu­tet, an gro­ßen Träu­men fest­zu­hal­ten. Das ist näm­lich nichts für Feig­lin­ge und darf sich nie um sich selbst dre­hen. Was ich beschrei­be, ist wirk­lich ego­los. Es geht auch um Kraft und Macht, die wir erlangt haben, die die­nend ist und die wir zur Ver­fü­gung stel­len, damit alle ande­ren sich auch ihren Ger­man Dream erfül­len kön­nen. Und da eine Mög­lich­keits­in­sel zu sein. Ich bin sehr stolz dar­auf und dank­bar, dass wir bei HÁWAR mit so tol­len Per­sön­lich­kei­ten zusam­men­ar­bei­ten und viel­leicht einen klei­nen Bei­trag dazu leis­ten dür­fen, dass ande­re auch ihren indi­vi­du­el­len Ger­man Dream errei­chen können.

(Flo­rence Bader & Sven Aumiller)
(Fotos der Rei­he nach von Johan­nes Arlt, Jes­co Den­zel & Paul Küster)