Das erste Konzert, das man ohne Eltern besuchen durfte. Nachts alleine auf der Autobahn und den gleichen Song immer und immer wieder hören, weil man nicht fassen kann, wie gut er ist. Der Track, den man mit den Freund:innen von früher laut grölend auf jeder Party mitgesungen hat. Vermutlich kennt jeder Mensch diesen Moment: Es läuft ein bestimmtes Lied oder Album, das einen direkt emotional in eine Situation zurückversetzen kann, nostalgisch werden lässt oder einfach nur aufgrund seiner Machart immer wieder zum Staunen bringt. Und genau darum geht es in unserem Format "DIGGEN mit …". Wir diggen mit verschiedenen Protagonist:innen der Szene in ihren gedanklichen Plattenkisten und sprechen über Musik, die diese Emotionen in ihnen auslöst. Dafür stellen unsere Gäste jeweils eine eigene Playlist mit Songs zusammen, die sie bewegen, begeistern und inspirieren.
Dieses Mal waren die Rapper Bobby Fletcher und Koljah zu Gast – doch sie kamen ausnahmsweise mit Buch- statt Musik-Empfehlungen zu uns. Die beiden Jugendfreunde lesen in ihrer Freizeit sehr gerne, was vielleicht genauso viel mit Nerdsein, Sammelleidenschaft und Liebe zum Detail zu tun hat wie die tiefergehende Freude an Musik. Wie Koljah vor dem Interview feststellte, liest man Bücher zwar in den seltensten Fällen viele Male und kennt sie auch nicht auswendig wie die liebsten Alben, dennoch können sie aus diversen Gründen einen wichtigen Platz im Leben einnehmen und einen vergleichsweise in den Bann ziehen. So stellten Bobby Fletcher & Koljah eine Liste mit ihren literarischen Highlights für uns zusammen und nahmen sich einen Abend Zeit, um ausführlich darüber zu sprechen.
Koljah saß dabei – wie es sich für ein ansehnliches Zoom-Meeting gehört – vor einem riesigen Bücherregal, während Bobby Fletcher zu seinem Unmut seines nicht zur Schau stellen konnte. Dafür blickte er theatralisch mit einem Messer und einem Apfel bewaffnet in die Kamera, um sich die frisch geschnittenen Schnitze direkt in den Mund zu schieben. Umgeben von staubigen, alten Büchern und Messern: Deutscher Rap war vermutlich nie männlicher – auf eine Professoren-Tweedjacken-"Der Club der toten Dichter"-Art. So auch die Bücherauswahl. Ganz überspitzt gesagt waren zerrockte Punker, Fußball und sehr viele Männer mit noch mehr Sinnkrisen unter anderem Thema bei unserem Gespräch. Wir sprachen aber auch über die tiefe Bedeutsamkeit, die der Natur zugrunde liegen kann, den unveröffentlichten Song "Schwimmen mit Ulf Kirsten" und das Kokettieren mit politischen Referenzen in der Musik.
1. "Stoner" von John Williams (Erstveröffentlichung: 1965)
Bobby Fletcher: Das ist das Buch, das ich jedem empfehle, wenn ich nach einer Buchempfehlung gefragt werde. Es hat eigentlich keinerlei Berechtigung, so gut zu sein, wie es ist. Es handelt von dem Leben eines Englischprofessors. Der Autor John Williams war selbst Englischprofessor und die Geschichte dreht sich um ein Leben, das eben wie ein Leben ist. Es passieren schon auch hier und da größere Dinge und es gibt zwischendurch tiefere Einschnitte, aber eigentlich ist es sehr direkt geschrieben, ohne dabei laut zu sein. Es geht um Höhen und Tiefen, um Hoffnung und vor allem auch Ernüchterung. Aus irgendeinem Grund saugt einen der Schreibstil so rein und man möchte weiterlesen. Es ist schwierig, das schmackhaft zu machen, aber wenn man es liest, versteht man es. Man bekommt den Zugang zum Innenleben des Protagonisten. Es fühlt sich ein bisschen wie eine Serie mit sehr vielen Staffeln und guten Charakteren an. Du siehst, was sie mit der Zeit alles geschafft und verloren haben. Wenn es so etwas gibt wie das gewisse Etwas, hat dieser Roman es auf jeden Fall. Man merkt das auch daran, dass ich es anscheinend verliehen habe und nicht mehr finde.
Koljah: An der Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich es verabscheue, Bücher zu verleihen. Ein paar Mal in meinem Leben habe ich das schon gemacht und gelegentlich habe ich sie auch wiederbekommen, aber es macht mich wirklich nervös, wenn eins meiner Bücher nicht bei mir ist. Ich würde lieber jemandem ein Buch kaufen, als es ihm zu leihen. Aus irgendeinem Grund ist das Verleihen von Büchern aber für viele eine so gängige Praxis, dass es vorausgesetzt und nicht hinterfragt wird. Man kennt ja diesen Satz: "Das musst du mir mal leihen, wenn du es fertig hast." Schon im Imperativ! Und dann muss ich das unter irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden verhindern. Es gab mal einen Rapper namens Illoyal, der über Jahre ein Buch von mir hatte und ich habe ihn regelmäßig terrorisiert, weil mich das rasend gemacht hat. Irgendwann hat er mir das dann per Post geschickt.
Bobby Fletcher: Da möchte ich dagegenhalten. Ich freue mich darüber, dass ich das Buch nicht gefunden habe. Denn mir hat dieses Buch wahnsinnig gut gefallen und als ich es gekauft habe, habe ich mir irgendeine scheiß Taschenbuch-Ausgabe davon geholt. Jetzt bin ich gezwungen, eine hervorragende, gebundene Ausgabe zu finden, weil ich es ja sonst nicht mehr in meinem Regal stehen habe.
2. "Arbeit und Struktur" von Wolfgang Herrndorf (Beginn des Blogs: 2010, Erstveröffentlichung: 2013)
Koljah: Dieses Buch lese ich zwar aktuell noch, aber möchte es jetzt schon empfehlen. Es wurde mir seit Erscheinen sehr oft ans Herz gelegt, aber auch hier bin ich Opfer einer meiner vielen skurrilen Eigenarten: Ich lehne Dinge ab, die mir empfohlen werden. Wenn ich die ganze Zeit höre, dass ich etwas lesen muss, habe ich keinen Bock mehr darauf und muss erst von selbst darauf stoßen. So auch hier: Wolfgang Herrndorf war mir ein Begriff, aber ich hatte nie etwas von ihm gelesen. Begonnen habe ich dann mit seinem Durchbruch "Tschick", dem Jugendroman, der auch von Fatih Akin verfilmt wurde. Woraufhin ich auch "Arbeit und Struktur" begonnen habe zu lesen. Dieses Buch ist das Tagebuch Herrndorfs Hirntumorerkrankung, was ziemlich medizinisch und deprimierend klingt. Ich muss aber sagen, dass es sehr witzig, gut geschrieben und beeindruckend ist. Der Autor war zum Zeitpunkt der Diagnose und somit auch dem Beginn seines Blogs schon Schriftsteller, allerdings ein recht erfolgloser, der unter anderem für das Satiremagazin "Titanic" gearbeitet hat. Aber in dem Moment, in dem er erfahren hat, dass er schon bald sterben wird, hat er sich gesagt: "Das, was ich jetzt brauche, ist Arbeit und Struktur." Er wollte Bücher schreiben und hat mit seiner bereits seit Jahren bestehenden Jugendroman-Idee von "Tschick" begonnen. Durch die Tatsache, dass er nicht mehr lange Zeit hat, ist der Knoten bei ihm geplatzt. Das ist natürlich tragisch, aber hat auch große Kunst hervorgebracht und es gibt trotzdem Szenen, bei denen ich so sehr gelacht habe wie schon lange nicht mehr. Man merkt schon, dass man da etwas Besonderes liest – literarisch gesehen. Schlussendlich hat er, als er es gerade noch so konnte, seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Kurz vorher endet auch "Arbeit und Struktur".
Bobby Fletcher: Ich habe das damals bei Erscheinen des Buches gelesen und fand die Art des Lesens durch die teils sehr kurzen Einträge schön. Das macht seine Tagesstruktur noch deutlicher. Aber das Ende war selbstverständlich auch niederschmetternd. Das ist nämlich das Problem: Dieser lustige Schreibstil macht, dass man noch weniger möchte, dass er stirbt.
3. "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez (Erstveröffentlichung: 1967)
Bobby Fletcher: "Hundert Jahre Einsamkeit" ist ein Roman, der die Familiengeschichte mehrerer Generationen der Buendías in Kolumbien erzählt. Sie gründen irgendwo in Kolumbien ein Dorf und leben dort viele Jahre. Ich möchte den ersten Satz vorlesen, weil er so ikonisch ist: "Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen." Ich weiß noch, dass ich den Satz gelesen habe und direkt mit dem Buch anfangen wollte. Das Genre ist magischer Realismus und diese Bilder, die Gabriel García Márquez mit Worten zeichnet, haben mich immer wieder gepackt. Es gibt zum Beispiel ein ganz altes Zimmer, in dem viele Jahre niemand mehr gewesen ist und ein Glas Wasser steht, in dem ein Gebiss liegt. Aus dem Glas wachsen ganz viele Pflanzen. Ich habe das nach Lesen des Buches für mich rekreiert, weil ich das so phänomenal fand. Es ist wirr, ein Rausch und am besten liest man eine der vielen Ausgaben, in der ein Familienstammbaum abgebildet ist. Man darf allerdings nicht in die Falle tappen, diese ganzen Strukturen verstehen zu wollen. Es geht darum, die ganze Geschichte wie einen Fiebertraum wahrzunehmen. Nur so kann man sich auf diese Magie, die darin steckt, einlassen.
Koljah: Während deine Kurzrezension zu "Stoner" mich nicht vollends überzeugen konnte, habe ich mir jetzt eine Notiz gemacht. Das muss ich mir mal genauer angucken, das hat mich doch neugierig gemacht.
Bobby Fletcher: Zurecht. Vollkommen zurecht.
MZEE.com: Nicht umsonst hat er dafür auch den Literaturnobelpreis bekommen. Überhaupt ist deine Liste, Bobby, sehr voll mit Pulitzer- und Nobelpreisträgern.
Koljah: Weil Bobby Fletcher einfach ein Aufschneider ist und denkt, man wirkt schlau, wenn man sowas liest.
Bobby Fletcher: Das ist Zufall. Das sind keine Bücher, auf denen vorne ein "Spiegel-Bestseller"-Aufkleber ist, bei dem ich weiß, dass das Buch für Schlaue ist.
Koljah: Noch besser ist "Spiegel-Bestseller-Autor". Wenn du einmal einen Bestseller geschrieben hast, kannst du für immer diesen Aufkleber auf deine Bücher kleben.
4. "Rap Attack" von David Toop (Erstveröffentlichung: 1994)
Koljah: Schon seit meiner Kindheit geht es mir so, dass ich mich sehr ausgiebig mit Themen auseinandersetze, die mich interessieren. Heute müssen es nicht mehr immer Bücher sein, ich kann auch wunderbar stundenlang von einer Wikipedia-Seite zur nächsten hüpfen. Wenn mich etwas fasziniert, möchte ich es auch durchdringen. Das fängt natürlich oft mit einer emotionalen Komponente an – ich habe nicht zu rappen angefangen, weil ich ein Buch darüber gelesen habe –, aber wenn dieser Funke übergesprungen ist, möchte ich alles darüber wissen. Und so habe ich mir auch als Kind "Rap Attack" bei der Stadtbücherei am Bertha-von-Suttner-Platz in Düsseldorf ausgeliehen, weil ich HipHop für mich entdeckt hatte. Ich habe nämlich das gemacht, wovon die ganzen Oldschooler immer reden: Ich habe studiert, wer vor mir da war. Ich vermute, dass dieses Buch immer noch ein Standardwerk über die Anfänge von Rap ist, das war es damals zumindest. Ich glaube, ich habe dadurch auch von der Existenz von N.W.A. erfahren. Diese skandalösen Crews haben mich am meisten begeistert und N.W.A. wurden dann sehr wichtig für mich.
5. "Verschwende deine Jugend" von Jürgen Teipel (Erstveröffentlichung: 2001)
Koljah: Die beiden Bücher gehören eigentlich zusammen, wobei ich schon sagen kann, dass mir "Verschwende deine Jugend" viel präsenter ist. Ich habe es sehr viel später und sogar zweimal gelesen, weil es noch mal in einer ergänzten Version rauskam. Es geht um die Anfänge von Punk in Deutschland und das bedeutet, dass es auch ganz wesentlich in unserer Heimatstadt Düsseldorf spielt. Dort gab es den Ratinger Hof, der für die Punkbewegung in Deutschland ein zentraler Punkt war. Das Buch ist eine sogenannte Oral History, also eine Montage aus ganz vielen Interviewaussagen aller wesentlichen Protagonisten aus dieser Zeit. Die Zitate sind so aneinandergebaut, dass es sich anfühlt, als würden sie alle um ein Lagerfeuer sitzen und einem die Geschichte von Punk erzählen. Neben HipHop war Punk immer meine große Faszination und sehr wichtig für mich. Ich habe mit einigen Leuten, die in dem Buch zu Wort kommen, später noch sprechen können und ein paar von ihnen sagen, dass Jürgen Teipel unfassbar viel Interviewmaterial ordnen und natürlich auch Schwerpunkte setzen musste, wobei es wohl insgesamt zu gewaltvoll wirkt und an manchen Stellen zu kurz gegriffen ist. Im Großen und Ganzen habe ich aber schon das Gefühl, dass es ganz gut vermittelt, was da Ende der 70er und Anfang der 80er los war. Als ich es zur Erscheinung gelesen habe, war ich schon sehr punkaffin, aber mir haben sich dadurch viele Bands noch mal mehr erschlossen wie zum Beispiel Fehlfarben. Ich kannte sie, aber durch das Buch wurde mir deutlich, welche Rolle sie und im Speziellen der Sänger Peter Hein, mit dem ich viel später auch einen Song mit den Antilopen gemacht habe, gespielt haben. Ich glaube, das Buch könnte auch Leute interessieren, die nicht so viel Ahnung von Punk oder kein Vorwissen dazu haben. Es geht um Subkultur, eine Jugendbewegung und die BRD in den ausgehenden 70ern, was zeithistorisch schon spannend ist.
6. "A Love Supreme – The Story of John Coltrane's Signature Album" von Ashley Khan (Erstveröffentlichung: 2002)
Bobby Fletcher: Dieses Buch handelt von der Entstehung des gleichnamigen Albums, das mein Lieblings-Jazz-Album ist. Ich höre sehr gerne Jazz und John Coltrane ist, vor allem mit "A Love Supreme", sehr prägend für mich gewesen. Er ist so spannend, weil er ein sehr solides Fundament im Saxophonspielen mitbrachte, aber im Laufe seiner Karriere immer experimenteller wurde und irgendwann eher spirituelle Musik machte. Dieses Album soll ein Gespräch mit Gott über das Saxophon darstellen, weil Gott anscheinend kein Englisch spricht, aber Musik verstehen kann. Ich liebe generell Bücher, die sich so intensiv mit nur einem Album oder Thema auseinandersetzen. In diesem Fall werden einzelne Songs in über 30 Seiten analysiert und Ashley Khan gräbt sich ganz tief rein. Es ist einfach sehr interessant, wie ein Künstler am Höhepunkt seines Schaffens dieses Instrument nutzt, um in eine ganz hohe, spirituelle Ebene vorzudringen. Das aber nicht verkopft, sondern indem er seine Gefühle annimmt und versucht, mit ihnen mitzugehen. Die Musik kann im ersten Moment wirr und überfordernd klingen, aber das Buch hilft auch dabei, ein Gefühl dafür zu bekommen. Vieles hört sich sehr willkürlich, improvisiert und frei an, aber jeder Ton hat seinen Platz und seine Berechtigung.
7. "Die Straße" von Cormac McCarthy (Erstveröffentlichung: 2006)
Bobby Fletcher: Ich würde nahezu alle Bücher von Cormac McCarthy empfehlen, wenn man diesen Stil mag – er ist sehr reduziert. Er benutzt auch keine Anführungszeichen, weil er findet, dass es hässlich aussieht, was es teilweise ein bisschen seltsam zu lesen macht, aber es passt auch sehr zu seinem Schreibstil. "Die Straße" handelt von einer postapokalyptischen Welt nach einer Katastrophe, in der ein Vater mit seinem Sohn in Richtung Meer reist. Die Zivilisation liegt in Trümmern und sie begegnen immer wieder Leuten, denen man nicht trauen kann. Seine Bücher sind immer sehr demotivierend und es gibt keine Hoffnung. Es ist aber ziemlich emotional und mitreißend, auch wenn es bedrückend ist und keine gute Laune macht. Man wünscht sich ein Licht am Ende des Tunnels, aber das gibt es nicht.
8. "Das Parfum" von Patrick Süskind (Erstveröffentlichung: 1985)
Koljah: "Das Parfum" ist eins der wenigen Bücher, das ich aus meiner Schulzeit und dem Deutsch-LK mitgenommen habe, weil ich damals sehr beeindruckt davon war. Es ist Patrick Süskinds einziger wirklicher Roman und er ist einer der erfolgreichsten auf deutscher Sprache, die je geschrieben wurden. Wenn man das Buch liest, merkt man das auch. Es ist nicht nur gut geschrieben, sondern die Geschichte ist einfach toll. Sie spielt im 18. Jahrhundert in Frankreich, die Atmosphäre dabei ist wahnsinnig beeindruckend. Neben dem Buch finde ich aber vor allem den Autor so bemerkenswert. Bei Erscheinung war er Mitte 30 und hat einfach ein Stück Weltliteratur geschrieben. Ihm wird nachgesagt, dass genau das sein Plan war – dass er ein Buch schreibt und dann davon leben kann. Er gibt keine Interviews, man weiß nicht, wie er aussieht und man weiß auch sonst nichts über ihn. Ab und zu kommen noch alte Novellen von ihm raus, aber er hat nie wieder ein Buch geschrieben. So eine ignorante Verschwendung von Talent finde ich beeindruckend.
9. "Der freie Fall der Spottdrossel" von Annie Dillard (Erstveröffentlichung: 1996)
Bobby Fletcher: Dieses Buch hat den Pulitzer-Preis gewonnen! Und danach habe ich es natürlich auch ausgewählt. Mein Vater hat mir irgendwann mal Annie Dillard gezeigt. Sie ist eine Autorin, die sehr viele religiöse Bilder nutzt und sie mit Naturbeobachtungen zusammenbringt. Klassische Romane schreibt sie nicht, es sind einfach Beobachtungen, mithilfe derer sie Querverbindungen schafft. Sie sieht sich zum Beispiel etwas in der Natur an und bringt es dann mit einer Kirche, die sie in Jerusalem besucht hat, in Verbindung. Sie schafft Bilder, die so eine wahnsinnige Tiefe haben. An einem Punkt redet sie von einem Adler, der mit einem Marder kämpft, wobei sich der Marder im Hals des Adlers verbeißt, obwohl er den Kampf schon verloren hat und gestorben ist. Das ist ein so intensives Bild, das sie da zeichnet. Ich mag sie für ihre Perspektiven und das Sehen der bedeutsamen Details im Alltäglichen. Sie sieht eine tiefe Bedeutung in allem, was es biblisch macht, ohne dabei religiös zu sein. Sie zu empfehlen, ist sehr privat für mich, und das ist wahrscheinlich das Buch, mit dem die wenigsten etwas anfangen können. Aber wer ein Bewusstsein für solche Sachen hat, wird großen Gefallen daran finden. Koljah könnte man das zum Beispiel nicht geben, weil für ihn nicht in allem eine Bedeutung liegt und er sowas ablehnt. Manche Leute wollen die Welt einfach nur brennen sehen. (lacht)
Koljah: (lacht) Ja, manche Leute wollen das. Das unterschreibe ich. Ich möchte mich aber nicht weiter dazu äußern, wir lassen das jetzt einfach so stehen.
10. "Anpfiff" von Toni Schumacher (Erstveröffentlichung: 1987)
Koljah: Bei all diesem bedeutungsschwangeren Blödsinn möchte ich zu Toni Schumacher kommen. Enthüllungen über den deutschen Fußball. Dieses Buch ist 1987 erschienen, bis dahin war er Torwart der deutschen Nationalmannschaft und Spieler beim 1. FC Köln. Als das Buch herauskam, ist er überall rausgeflogen und die Karriere war im Eimer, weil er es sich damit bei allen verscherzt hat. Ich habe es aber nicht nur wegen dieser lustigen Begebenheit ausgesucht, sondern weil ich wirklich eine groteske Faszination für Fußballer-Biographien habe. Ich muss dazusagen, dass ich mich nur für Fußball vor der Jahrtausendwende interessiere und ich keine Ahnung von aktuellem Fußball habe.
Bobby Fletcher: Ich finde, wir sollten einen Song über 90er Jahre-Fußball machen, aber ich wüsste gar nicht, was für einen Beat wir dafür nehmen sollten und wie das aussehen sollte. Ach ja, wir haben ja einen Song darüber gemacht, der nicht auf dem Album ist, weil ich kein Mitspracherecht habe. Das ist doch einfach nur Salz, das in meine immer noch pulsierende Wunde gestreut wird. Dass du mit so einem Buch jetzt hier um die Ecke kommst …
Koljah: Hier geht es ja um Fußball aus den 80er Jahren. Der Song hieß "Schwimmen mit Ulf Kirsten", aber darum soll es hier gar nicht gehen. Vielleicht möchten wir den ja noch als MZEE Exclusive rausbringen. Ich hatte 2001 mit "Du bist frei" ein MZEE Exclusive, was damals eine große Sache war. Danke noch mal an Ralf Kotthoff. Aber ich möchte zu Toni Schumacher zurückkommen. Bei diesen Fußballer-Biographien gibt es wirklich einige Perlen, ich lese das total gerne. Nach dieser müsste man eigentlich direkt noch "Halbzeit" von Uli Stein lesen, weil die beiden Rivalen waren. Uli Stein hat in seinem Buch Franz Beckenbauer als Suppenkasper bezeichnet und ist daraufhin auch rausgeflogen. Das sind geile Typen. "Anpfiff" habe ich mir natürlich auch schon als Kind in der Stadtbücherei ausgeliehen, habe es aber selbstverständlich noch mal kaufen müssen und es erneut gelesen. Er hat da Insider aufgeschrieben, die heute überhaupt nicht mehr denkbar sind – in Trainingslagern über den Zaun klettern, um in irgendwelchen Spelunken zu saufen, und Doping-Geschichten, die er offenbart hat. Es war auf jeden Fall ein großer Skandal und ein lustiges Zeitdokument.
11. "Nemesis" von Philip Roth (Erstveröffentlichung: 2010)
Bobby Fletcher: Dieses Buch handelt von einem Sportlehrer und Kinderlähmung. (Koljah lacht) Wenn man sich mit der Grundstimmung, die ich in Büchern mag, auseinandersetzt, darf Kinderlähmung natürlich nicht fehlen. Ich weiß überhaupt nicht, was mich an diesem Buch so fasziniert hat, vor allem weil man sich inzwischen ja auch dagegen impfen lassen kann und es eigentlich redundant geworden ist. Es hat aber eine interessante Erzählperspektive, die man erst später versteht. Dadurch bekommt es noch eine andere Ebene, die es auch für die heutige Zeit relevant macht. Bucky, der Sportlehrer, der für viele Kinder ein Vorbild ist, verliert in dieser Epidemie immer wieder Schüler an die Krankheit und damals wusste auch niemand, woher das kommt. Es ist sehr simpel und direkt geschrieben, der Schreibstil ist nicht blumig oder fantasievoll, sondern konzentriert sich auf den Protagonisten und seine Gefühlswelt.
12. "Das letzte Gefecht – Die Linke im Kalten Krieg" von Jan Gerber (Erstveröffentlichung: 2022)
Koljah: Ich habe meine Auswahl eher beispielhaft für bestimmte Arten von Büchern getroffen und da ich auch gerne über politische Theorie und gesellschaftliche Themen lese, habe ich das mitgebracht. Hier geht es um linke Geschichtsschreibung und es wurde mir jüngst vom Autor in Leipzig geschenkt. Ursprünglich war das seine Dissertation, die thematisiert, wie der Bruch der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks die linke Szene in der BRD beeinflusst und irritiert hat, weil ein Orientierungspunkt weggebrochen war. Wohlgemerkt auch ein Orientierungspunkt für Leute, die die Sowjetunion nicht gut fanden. Man muss sich schon sehr für linksradikale Debatten interessieren, um das lesen zu wollen, das ist eher Nerdshit. Man sollte auf jeden Fall ein Grundinteresse für politische Splittergruppen mitbringen. Wie gesagt war die Sowjetunion auch für ihre Kritiker in der BRD-Linken ein Fixpunkt und zu Zeiten des Kalten Krieges gab es die beiden Pole Westen und Osten. Die Sowjetunion stand für etwas anderes als Kapitalismus, am Ende war aber sozusagen nur noch der Kapitalismus da. Die Linke geriet in eine Krise und versank in der Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig entstand im Zuge der deutschen Wiedervereinigung die Strömung der Antideutschen. Ich finde das Buch sehr spannend. Außerdem halte ich Jan Gerber für einen guten Historiker. Mir macht es Spaß, mich in sowas reinzunerden, und ich habe inzwischen wahrscheinlich auch viel unnützes Wissen über Themen wie die RAF, K-Gruppen und irgendwelche linken Sekten.
MZEE.com: Dieses unnütze Wissen findet sich ja auch oft als Referenz oder Anspielung in deinen Texten wieder. Hast du das Gefühl, dass dir das zu Teilen negativ oder zu politisch ausgelegt wird, obwohl es manchmal vielleicht nur das Nerdsein ist, das sich da zeigt?
Koljah: Mit Sicherheit haben wir auch einige explizit politische Songs, die irgendetwas wollen. Aber dass etwa unser Album "Anarchie und Alltag" nur so vor RAF-Referenzen strotzte, war eher ein Stilmittel. Zum Beispiel: "Und natürlich kann geschossen werden" in dem Song "Das Trojanische Pferd", was ein Ulrike Meinhof-Zitat ist. Mit diesen Anspielungen haben wir ein bisschen kokettiert, aber letztlich war "Das Trojanische Pferd" einfach ein Konzept-Song. Bei "RAF Rentner" war es lustig, dass die Reaktionen je nach Perspektive sehr unterschiedlich waren. Wir machen uns in dem Lied ja über den gescheiterten, immer noch in der Illegalität lebenden Rest der RAF lustig. In Kreuzberg haben sich linke Antiimperialisten so sehr über "RAF Rentner" geärgert, dass sie auf Wände gesprüht haben, die Antilopen seien Feinde der RAF. Gleichzeitig dachten irgendwelche Lokalzeitungen, bei denen wir im Interview saßen, dass wir RAF-Sympathisanten seien, und fanden das unmöglich. Ich war wirklich mal RAF-Sympathisant, da war ich so 16 Jahre alt und dachte nicht nur, dass die Kommandoerklärungen wahnsinnig klug wären, sondern dass man sie auch in die Jetzt-Zeit übertragen könne. An mir war der Zusammenbruch des Ostblocks offenbar vorbeigegangen. Heutzutage spiele ich gerne in Songs damit und habe jedes Buch zum Thema gelesen, aber ich glaube, man muss sich sehr rudimentär mit der RAF und mit der Antilopen Gang befasst haben, um zu denken, dass wir das einfach stupide abfeiern. Viele Sachen werden auch überinterpretiert, das nervt ein bisschen. Manchmal ist es nur eine random Zeile in einem random Song.
(Yasmina Rossmeisl)
(Foto von Kay Özdemir)