Samstagnachmittag, 15:30 Uhr: Es bahnt sich ein Herzschlagfinale in der deutschen Fußball-Bundesliga an, und auch die Werbemacher laufen daher zu Hochform auf. Wer den Fernseher einschaltet, um live mitzufiebern, wird vor Spielbeginn von drei verschiedenen Wettanbietern dazu aufgefordert, auf den Erfolg beziehungsweise Misserfolg der Mannschaften zu setzen. Während des Spiels folgen auf der Bandenwerbung zwei andere Anbieter, die große Gewinne für kleines Geld versprechen. Wer nach einem aufwühlenden Sporttag noch mal die Geschehnisse der vergangenen Stunden in einer Kneipe Revue passieren lassen will, wird dort nicht an Spielautomaten vorbeikommen, in die Menschen gerade ihr Kleingeld oder ihre Scheine stecken – in der Hoffnung, den ganz großen Gewinn für ihre Wagnisse zu erzielen. Das Spiel mit dem Glück ist ein boomendes Milliardengeschäft, das jeder Generation ein neues Gesicht präsentiert: Waren es vor Jahrzehnten noch Spielotheken, Pferdewetten oder Lotto-Scheine, sind es heute Online-Casinos, Pokerspiele und Live-Sportwetten bei zahllosen, meist digitalen Anbietern. Was gleichzeitig mit den Umsätzen der Glücksspielanbieter boomt, ist die Zahl der Süchtigen: Rund 430.000 Menschen sind in Deutschland spielsüchtig, die Dunkelziffer dabei schier endlos. Wir haben mit der Rapperin Pilz – deren Song "Nie wieder Tipico" das eigene, ungesunde Verhältnis zu Sportwetten anspricht – über dieses Thema gesprochen und wollten wissen, was ihre Spielsucht-Erfahrungen sind, wieso Deutschland so unkritisch mit dem Problem umgeht und wie man Betroffenen im Umfeld bestmöglich helfen kann.
MZEE.com: Nachdem wir heute über Spielsucht sprechen wollen, hilft es, mehr über deine Erfahrungen mit dem Thema zu wissen. Was waren deine ersten Berührungspunkte mit Glücksspiel? Würdest du sagen, dass Wetten oder Spielen zu einem Zeitpunkt in deinem Leben ein Problem war?
Pilz: Meine ersten Erinnerungen an das Thema starten tatsächlich schon in der Kindheit, weil meine Mutter eine Eckkneipe betrieb, als ich so circa zwölf Jahre alt war. Da standen auch Spielautomaten, solche "einarmigen Banditen", in der Bar. Als Kind findet man das besonders faszinierend: Diese drehenden Banderolen, an denen alles automatisch funktioniert und bunt leuchtet. Da möchte man sofort überall draufdrücken. Meine Mutter bemühte sich von Anfang an, mich möglichst fern davon zu halten und erklärte, wie problematisch dieser Automat sein kann, auch wenn man das als Zwölfjährige nicht versteht. Ich habe wohl öfter vorgeschlagen, mal mein Taschengeld da reinzuwerfen. (lacht) Um mich davon abzubringen, hat sie einen Gast der Kneipe angesprochen, der von sich selbst sagte, er sei spielsüchtig. Sie bat ihn darum, mir mal zu erzählen, warum der Automat nicht so gut sei. Das war schon ein kleiner Schock, aber effektiv. Dieser Mann entsprach sehr dem Klischee eines Spielsüchtigen, der oft als alkoholisiert und heruntergekommen dargestellt wird. Ich habe Spielautomaten dann erstmal mit ihm assoziiert und dank dieser Geschichte hielt ich mich davon immer fern. Die nächste, wirklich aktive Erinnerung stammt aus der Schulzeit und von einem Mitschüler, der in der Mittagspause ständig verschwand und nachmittags zu spät zum Unterricht zurückkam. Nach einigen Monaten gestand er uns, während der Pausen in die Spielo zu gehen. Wie er das gemacht hat, ist mir bis heute nicht klar – volljährig war er ziemlich sicher nicht. Er erzählte, wie viel Geld er dort schon verlor und dass dies einer der Gründe für ihn gewesen wäre, mit dem Grasdealen anzufangen. Da schließt sich natürlich ein Teufelskreis.
MZEE.com: Hattest du noch weitere Erfahrungen mit Glücksspiel, bevor du selbst erstmals ein Wettbüro betratst?
Pilz: Früher musste ich mal in einem richtig ranzigen Kiosk arbeiten, damit Geld reinkommt. Es gab auch eine Lotto-Station in diesem Laden. Was mir bei der dazugehörigen Lotto-Schulung total im Gedächtnis blieb: Das, was am süchtigsten macht, sind Rubbellose. Scheiß Rubbellose! Das mag abstrus klingen, aber durch die niedrigen Summen, die hier verloren werden, ebnet das den Einstieg zur großen Lotterie. Eine Hemmschwelle gibt es hier nicht einmal für ältere Muttis auf dem Dorf. Die werden als kleiner Spaß nebenbei gekauft und man kann nicht viel verlieren. Dass sich das läppert, wenn du jahrelang jede Woche ein paar Lose kaufst, bedenkt man dadurch noch weniger. Bei dieser Schulung habe ich auch gelernt, dass die meisten Gewinne hier auch direkt reinvestiert werden. Wer mal ein erfolgreiches Los zog, möchte direkt drei weitere kaufen. Das habe ich super oft erlebt. Die Wenigsten würden von sich aber sagen, süchtig nach Rubbellosen zu sein. Trotzdem waren 80 Prozent der Käufer:innen auch Stammkund:innen, die meistens auch bei der großen Lotterie mitmachten, weil sie dachten, ein funktionierendes System für sich entwickelt zu haben. Menschen, die von sich selbst behaupteten, seit 20 Jahren dieselben Zahlen zu tippen. Damals fand ich das unterhaltsam und habe mit den Menschen zusammen darüber gewitzelt, dass es bald mal klappt. Dass es wie Glücksspielsucht wirkt, seit 20 Jahren drei Mal im Monat die gleichen Zahlen in einem Orakel zu tippen, ist mir erst viel später aufgefallen.
MZEE.com: Auch abstrus, dass da keine Resignation einsetzt. Ich meine: Wie viel Glück steckt in deinen Glückszahlen, wenn du seit 20 Jahren mit ihnen verlierst?
Pilz: Eigentlich traurig. Die denken eben, sie hätten das System geknackt, und behaupten, dass es ja nur ein paar Euro pro Monat sind. Ein paar Euro seit 20 Jahren sind aber eine ganze Menge. Das verhält sich wie mit Leuten, die denken, sie hätten kein Alkoholproblem, weil sie nur ein Bier am Abend trinken. Na ja, wenn du jeden Abend seit 20 Jahren Bier trinkst, ist das schon problematisch!
MZEE.com: Inwieweit haben diese Geschichten als abschreckendes Beispiel auf dich gewirkt, um in diesen besagten Teufelskreis nicht selbst zu geraten?
Pilz: Diese Geschichten, auch aus dem näheren Umfeld und Freundeskreis, haben auf jeden Fall dazu geführt, dass ich mich viel mit dem Thema "Automaten" beschäftigte. Mit dem Thema "Spielsucht" bin ich wiederum über Sportwetten in Berührung gekommen. Wie ich erstmals dazu kam, einen Wettschein auszufüllen, kann ich aber selbst nicht mehr sagen. Ich weiß nur noch, dass das so 2014 oder 2015 passiert sein muss. Damals lebte ich von Sozialhilfe und hatte zusätzlich Schulden angehäuft – kurz gesagt, ich war broke as fuck. In so einer Situation kam ich drauf, dass ich mein Glück mit Sportwetten versuchen könnte … absurderweise. (lacht) Bei mir ging es dabei ausschließlich um Fußballwetten, um keine andere Sportart. Hier habe ich auch immer ohne System, sondern nur aus dem Bauch heraus gewettet. (überlegt) Mir fällt gerade ein: Der Vater einer Freundin nahm mich zwei-, dreimal mit nach Hamburg und lud uns zu Pferderennen ein, bei denen wir "dank ihm" mitwetten durften. Da muss ich auch erst zwölf Jahre alt gewesen sein, maximal 14. Vielleicht kam so das Thema "Sportwetten" erstmals in mein Leben.
MZEE.com: Absurd, wie präsent das Thema in Deutschland ist: Seine Kinder zu Pferdewetten mitzunehmen, Spielautomaten in jeder Kneipe des Landes, eine Spielothek um die Ecke des Schulgeländes – das wirkt alles ungesund und falsch. Wann hattest du bei deinen Sportwetten das Gefühl, dass dein Umgang mit dem Thema problematisch wird?
Pilz: Ich hatte ein festes Wettbüro in der Nähe des Lübecker Bahnhofs, in das ich immer wieder mit einem Kumpel gegangen bin. Kam ich da rein, wurde ich erstmal angeglotzt. Ich habe nie eine andere Frau an diesem Ort gesehen, zusätzlich war ich gerade frisch volljährig und sah ziemlich jung aus – gleich zwei Fakten, die mich auffallen ließen. Anfangs haben die Leute dort eher ungläubig geguckt, und irgendwann habe ich deren Gesichter auch selbst erkannt und mir gemerkt. Da saßen immer dieselben Gestalten, die mit einer Packung Toastbrot am Tisch saßen und Schein nach Schein ausfüllten, scheinbar den ganzen Tag. Einmal habe ich in diesem Wettbüro ein Spiel geguckt, weil ich Live-Wetten abschließen wollte. Dann plötzlich kam einer dieser Typen vorbei, hat mich gegrüßt und mir eines seiner Toastbrote angeboten. (lacht) Das klingt jetzt komisch, aber das war der Moment, in dem ich merkte, dass etwas nicht stimmt – weil ich so häufig bei ihnen war, dass er mich erkannte. Das sind solche Mikromomente, die mich zum Umdenken gebracht haben. Ich habe daraufhin einen sauberen Schlussstrich gezogen und gesagt, dass ich das künftig einfach nicht mehr mache.
MZEE.com: Hast du seitdem je wieder gewettet?
Pilz: (überlegt) In einem Wettbüro war ich seither nie wieder. Letztes Jahr bei einem Spiel von Lübeck gegen Essen, das ich mit meiner Familie zu Hause sehen wollte, kam das Bedürfnis aber wieder auf, eine Wette abzuschließen. Damals über mein Handy, was ich nie zuvor gemacht hatte. Als ich mich gerade registrieren wollte, habe ich gemerkt, wie ich in gleiche Verhaltensmuster wie damals reinschlitterte. Mein Kumpel riet mir dann eindringlich davon ab, weswegen ich die Wette nie abgeschickt habe. Zum Glück!
MZEE.com: Macht es für dich einen Unterschied, selbst im Laden einen Schein auszufüllen oder nur am Handy mitzuspielen? Und wie kann man sich die Atmosphäre in einem Wettbüro vorstellen? Ich selbst war nur einmal in einem.
Pilz: Wie hast du die Stimmung bei deinem Besuch wahrgenommen?
MZEE.com: Fast schon traurig. Sehr viele bedrückt wirkende Menschen auf engem Raum. Das klingt jetzt pathetisch, aber mein Eindruck war, dass das Leid vieler Menschen fast schon in der Luft hing.
Pilz: Exakt das. Mal ein Vergleich: Beim Public Viewing von Sportevents herrscht auch eine angespannte Atmosphäre, weil so viele leidenschaftliche Fans an einem Ort sind und beispielsweise einen Sieg von Deutschland sehen wollen. Das ist aber erst mal positiv. Im Wettbüro sind auch viele Menschen angespannt, aber aus anderen Gründen. Die Stimmung wirkt immer deprimiert, nicht euphorisiert. Scheinbar interessiert sich niemand wirklich für den Sport, weil es jede Minute nur darum geht, ob man gerade Geld verliert oder gewinnt. Dazu kommt die fehlende Diskretion. Natürlich kannst du deine Scheine weitestgehend anonym an einem Automaten machen, aber bei vielen hörte man eben am Schalter, welche Wetten abgeschlossen wurden. Du siehst dann das Spiel und merkst die Aggressivität aller, deren Schein nicht aufging. Im Gegensatz dazu sind die Apps der Anbieter natürlich darauf trainiert, dass du möglichst dumme Entscheidungen triffst. Dir werden viel mehr Wetten vorgeschlagen, die du ganz einfach und impulsiv eingehen kannst. Du siehst die Live-Quote die ganze Zeit und wie sie sich mit jeder Sekunde ändert. Da schaut man das Spiel schon gar nicht mehr, sondern überlegt, wie man sein Bauchgefühl zu Geld macht. Ich habe so viele so dumme Scheine dabei abgegeben: Nicht darauf, dass beispielsweise die offenbar unterlegene Mannschaft gewinnt, sondern darauf, wie viele gelbe und rote Karten in einem Spiel fallen. Komplett idiotische Dinge. Das mache ich noch heute, wenn ich Fußball schaue: aus dem Gefühl heraus behaupten, wer das nächste Tor macht. Wenn du dann auch mal recht hast, vertraust du deinem Gefühl und blendest die zehn Male aus, in denen du falsch lagst. Ich wette nur nicht mehr darauf. Bei den offensichtlichen Wetten, wer am Ende gewinnt, lag ich auch häufig richtig mit meinem Gefühl. Das ist ja das besonders Fiese daran: Durch deine Erfolge bestätigt sich deine Idee davon, du hättest eine Strategie gefunden, die funktioniert.
MZEE.com: Das klingt bei dir aber zumindest nicht so, als hättest du unfassbar hohe Summen verloren. Hast du es mal durchgerechnet?
Pilz: Wenn man alles zusammenzählt, bin ich am Ende ganz sicher im Minus. Ich hatte nie so viel Geld, das ich überhaupt wirklich "hohe Summen" hätte setzen können. Wenn du aber Sozialhilfe bekommst, ist jede Summe für dich eine zu hohe Summe. Viele fangen an diesem Punkt dann an, sich Geld zu leihen und so. Gott sei Dank war mir das aber immer viel zu unangenehm. Der Teufelskreis besteht immer aus Frust und Wut: Wenn ich beispielsweise etwas gewonnen habe, konnte ich mich nie freuen. Ich habe mich immer nur geärgert, nicht noch mehr gesetzt zu haben. Und wenn die Gewinne irgendwann die ursprünglich gesetzte Summe übersteigen, wird nur das tatsächlich gewonnene Geld reinvestiert, was "ja sowieso nur Gewinn war." So redet man sich selbst ein, logisch zu handeln. Bei mir war das aber nie so extrem wie bei vielen Leuten, die ich zum Teil auch kenne. Ich war nie an dem Punkt, an dem ich nach Erfolgen immer höhere Beträge setzte und so immer tiefer ins Problem reingerutscht bin.
MZEE.com: Sportfans werden in der Bundesliga rund um die Uhr von verschiedenen Wettanbietern mit der besten Quote schier bombardiert. Wie ist das möglich? Inwieweit ist unser Umgang mit dem Thema Sportwetten in Deutschland zu unkritisch?
Pilz: Hättest du mich gefragt, wie präsent Werbung für Sportwetten in Deutschland ist, als ich selbst noch viel mehr Zeit mit Tippscheinen und Ähnlichem verbracht habe, wäre meine Antwort nicht so klar ausgefallen wie heute. Viele der Werbeformen sind eher unterschwellig gestaltet, beispielsweise in Form von Bandenwerbung am Spielfeldrand. Generell haben wir einen sehr unkritischen Umgang mit Glücksspiel. Unglaublich eigentlich in einem Bürokratie-Staat wie Deutschland, dass Glücksspiel in der Form überhaupt erlaubt ist. Das ist total seltsam. Wenn ich mir heutzutage Menschen wie Knossi oder Montana Black anschaue, die ihre teils jungen Zuschauer:innen in Streams jahrelang mit Glücksspiel in Online-Casinos bespaßten, helfen auch Warnungen vor und nach den Streams nur wenig. Eine Warnung, dass Glücksspiel süchtig machen kann, bringt nicht so viel, wenn dein Idol damit scheinbar Unsummen verdient.
MZEE.com: Bei Online-Casino-Werbung empfinde ich es als besonders extrem. Da gibt es eine Warnung nach dem Werbespot, dass dieses Spiel nur mit Wohnsitz in bestimmten Bundesländern legal sei. Sollte der Staat mehr Maßnahmen ergreifen, um des Problems Herr zu werden?
Pilz: Ich glaube nicht, dass wir das Problem ohne staatliche Regulierung überhaupt bewältigen können. Es gibt seit Jahren Menschen, die auf die Gefahren von Glücksspiel aufmerksam machen. Es gibt diese Warnungen vor Werbungen von Tipico und Online-Casinos. Was hat es gebracht? Das Problem ist trotzdem omnipräsent. Das Mindeste wäre ein Verbot von Sportwetten-Werbung während der eigentlichen Spiele, um diesen unterschwelligen Botschaften Einhalt zu gebieten. Der psychologische Effekt dieser subtilen Werbeformen ist ja durchaus untersucht worden. Außerdem muss man die Anbieter selbst mehr in die Pflicht nehmen: Es gibt Casinos, in denen es vorgeschrieben ist, beim Eingang den Ausweis vorzulegen. Dort kann in einem internen Tool gecheckt werden, ob bei der Person eine Spielsucht vorliegt, und der Zugang zum Casino gegebenenfalls untersagt werden. Das sind aber Ideen, die ausschließlich physisch vor Ort umgesetzt werden können. Wie das bei Online-Casinos oder Wettanbieter-Apps umgesetzt wird, keine Ahnung. Da ist die Hemmschwelle viel zu niedrig, der Zugang viel zu einfach und spielerisch. Von selbst werden die Anbieter ihr System nicht ändern. Spielsucht ist immerhin ein Milliardengeschäft, bei dem jede:r im Kapitalismus profitiert.
MZEE.com: Du hast es eben bereits angesprochen: Auch auf Twitch finden sich immer wieder Streamer:innen, die plötzlich in Steuerparadiesen wie Malta oder Zypern wohnen und utopische Gewinnsummen in Online-Casinos präsentieren und versprechen. Wie gefährlich ist ein solcher Einfluss auf potenziell noch jugendliche Zuschauer:innen?
Pilz: Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass es präventive Kurse und Möglichkeiten schon in der Schule geben sollte, um auf die Gefahren von Glücksspiel hinzuweisen. Ich glaube nicht, dass das bei mir in der Schulzeit der Fall war. Es gab nie Sozialarbeiter:innen, die Vorträge über Spielsucht hielten, was meiner Meinung nach dringend notwendig wäre. Da hängt das Schulsystem weit hinterher. Für harte Drogen beispielsweise gibt es Organisationen, die ehemals Abhängige von Schule zu Schule schicken und ihre Geschichte erzählen lassen. Das hat einen viel stärkeren Effekt auf Jugendliche, als wenn es einem nur die Lehrkraft erzählt, die man vielleicht nicht einmal mag. Es wäre bestimmt wirkungsvoll für einige, wenn Betroffene in die Klassen gehen und von ihren Problemen erzählen. Wie sind sie in den Teufelskreis geraten, wie viel haben sie verloren? Eine solche Vortragsreihe wäre gut, vielleicht ergänzend zu sozialpädagogischen Ideen, die den richtigen Umgang mit dem Thema und die Gefahren spielerisch erläutern. Nur so kann man besser sicherstellen, gar nicht erst in die Falle zu geraten. Ist aber natürlich auch ein supersensibles und stigmatisiertes Thema.
MZEE.com: Der Song "Nie wieder Tipico", der dein eigenes ungesundes Verhältnis zu Sportwetten offenbart, ist jetzt über acht Jahre alt. Ich habe bis hierhin herausgehört, dass du selbst mit dem Thema weitestgehend abschließen konntest, oder?
Pilz: Ich kann zum Glück sagen, heutzutage gar keine Berührungspunkte mehr damit zu haben. Es wirkt auf mich eher abschreckend, wenn ich mittlerweile ebenjene Tipico-, bwin- oder sonstige Werbungen sehe. Bei mir ist sogar eine Spielothek um die Ecke, das juckt mich aber auch nicht mehr – trotz Freund:innen, die es witzig fänden, da reinzuschauen. Das lehne ich konsequent ab, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen und weil ich mich sowieso nur ärgern würde. Alles, was ich privat mittlerweile dazu mitbekomme, sind traurige Geschichten aus meinem Umfeld. Das fühlt sich aber viel weiter entfernt von meiner Lebensrealität an als früher. (überlegt) Diese Distanz wird fast zwangsläufig größer, weil sich Menschen mit Spielproblemen zumeist stark isolieren. Soziale Kontakte sind oft kein Thema mehr.
MZEE.com: Hattest du mal ein Gespräch, in dem du das Problem direkt thematisiert hast, nachdem dir ein mögliches Spielproblem auffiel?
Pilz: Eine Person, die sich zeitweise immer wieder Geld bei mir geliehen hat, hat oft einen sehr prägnanten Beisatz gesagt: "Keine Sorge, du bekommst es nächsten Monat auch doppelt zurück", obwohl ich nie wissen wollte, wann oder wie ich die Kohle wiederbekomme. Das ist ganz typisch. Jedenfalls wollte ich irgendwann wissen, wofür er immer wieder Geld von mir braucht, woraufhin er erst offenbarte, dass es gerade in der Spielo nicht so gut liefe. Bis dahin habe ich das Problem nicht einmal geahnt. Natürlich wollte ich dann wissen, wie ich ihm helfen kann, woraufhin er aber wiederum komplett abblockte und die typischen Ausreden zuhilfe nahm. Heutzutage würde ich die Spielsucht als ein Symptom vieler anderer Probleme sehen und über Beziehungsarbeit versuchen, herauszufinden, was für Dinge noch so in dem Menschen schlummern. Nicht so sehr den Finger in die Wunde legen, sondern über Umwege die eigentlichen Schwierigkeiten erfragen. Was mir auch ganz wichtig ist: sich selbst dabei emotional abzugrenzen. Ich selbst habe mich immer wieder dabei erwischt, mir Vorwürfe zu machen und mich zu fragen, ob ich nicht noch mehr tun könnte. Nein, kann man nicht! Die meisten von uns sind keine Therapeut:innen und unsere Freund:innen sind nicht unsere Klient:innen. Manchmal kann es schon helfen, ein offenes Ohr zu haben, zuzuhören und Hilfe anzubieten, aber annehmen müssen die Menschen sie selbst. Vielleicht kann man vorher sogar fragen, ob emotionaler Support oder eine konkrete Problemlösung gebraucht wird. Manchmal will man sich ja auch nur auskotzen. Ich glaube, nur professionelle Hilfe kann hier wirklich ansetzen.
MZEE.com: Zum Ende wollen wir Leser:innen ohne Berührungspunkte mit dem Thema helfen, Menschen mit einem Spielproblem besser zu verstehen. Nachdem dein Song über Deutschlands bekanntesten Wettanbieter auch "an alle deine Brüder" adressiert war, würde ich gerne wissen: Wie hast du Menschen wahrgenommen, denen du ein solches Problem angemerkt hast?
Pilz: Das Problem ist die Schweigsamkeit der Menschen, die schon zu tief in der Spielsucht stecken. Nicht nur, weil sie das Problem selbst nicht erkennen, sondern auch aufgrund des Stigmas, welches an der Spielsucht hängt. Die wollen nicht darüber reden. Die wollen auch nicht darauf angesprochen werden. Die wollen das verheimlichen. Ich habe schon oft erlebt, dass sich Leute mit einem vermeintlichen Problem bei anderen Geld leihen wollten. Wenn das immer wieder vorkommt und von Zinsen gesprochen wird, mit denen das Geld dann zurückkommt, wird rumgedruckst oder sehr geübt gelogen bei der Frage, wofür die Kohle benötigt wird. Es ist also sehr schwer, ein Problem mit Glücksspielsucht überhaupt zu erkennen. Ähnlich der Frage, die sich Eltern in der Pubertät des Kindes stellen: Wie schaffe ich es, dass mein Kind nicht völlig abdriftet? Die Antwort darauf ist stark individuell und fallabhängig. Viel wichtiger ist es, eine Beziehung aufzubauen. Man sollte offen bleiben gegenüber den Betroffenen und sie nicht verurteilen für die Probleme, die sie haben. Beispiel: Wenn ich mit einer mir noch unbekannten Person Fußball schaue, die Tipico-Werbung läuft und er hört, wie ich darüber herziehe, wird sie sich mir gegenüber garantiert nicht öffnen. Mehr noch: Je öfter sie das von verschiedenen Leuten immer wieder hört, desto geringer wird die Chance, dass sie sich jemals irgendwem anvertraut. Deshalb musst du mit der nötigen Sensibilität über das Thema reden, diese Vorverurteilung nicht vorantreiben und Menschen damit absichtlich den Raum nehmen, Probleme zu erkennen und Hilfe anzunehmen.
(Sven Aumiller)
(Fotos von Carl Planthaber)
(Disclaimer: Wer bei sich selbst oder Menschen in seinem:ihrem Umfeld Probleme mit Spielsucht vermutet und handeln möchte, findet unter der Nummer 0800 1 37 27 00 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kostenfreie Auskunft und Beratung zu Glücksspielsucht.)