Manchmal denkt man: Stoppt Brazzo!
Lieber Uli Hoeneß,
zufällig ist mir ein altes Mannschaftsfoto aus dem Jahre 1974 zwischen die Finger geraten – ich erkannte dich kaum wieder. Auf diesem Foto lachst du so losgelöst, so sorgenfrei in die Kameras, getragen vom Schwung zweier Finaltore beim 4:0 gegen Atletico Madrid, beschwingt von der Anwesenheit jugendlich losgelöster Kameraden wie Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier, Katsche Schwarzenbeck, Bulle Roth, Paul Breitner, Rainer Zobel, Johnny Hansen, Jupp Kapellmann, Conny Torstensson, der Europacup mittendrin (siehe in der Printausgabe der SPORT BILD vom Mittwoch: „Schwarzenbeck. Das Spiel meines Lebens.“) Du blickst versonnen in den Himmel von Brüssel, als hättest du damals schon geahnt, dass du den ganz großen
FC Bayern erst aufbauen würdest als Manager und Präsident.
Dieses Lächeln würde man dir wieder wünschen, lieber Ulrich (so nennt dich Jupp Heynckes, dein Freund). Dabei fliegen dir und deinem Partner Karl-Heinz Rummenigge momentan die Missgriffe, besser gesagt die Nullkommanull-Griffe von Sportdirektor Brazzo Salihamidzic um die Ohren. Ein Transfer nach dem anderen platzt. Brazzo wildert und scoutet in den Kindergärten Europas, der ganzen Welt.[/Spoiler]
Die Meldungen, dass aus der neuseeländischen Provinz ein 20-jähriger Sarpreet Singh von Wellington Phoenix angeblich schon mit großen Augen vorm Vereinsgelände an der Säbenerstraße steht, reißen nicht ab. Erst Alphonso Davies aus der kanadischen Weite, dann einer aus Neuseeland, es reicht.
Woher nach dem kläglichen Vorrunden-EM-Aus der U21 immer noch die Liebe zu Engländern rührt, stößt ebenfalls auf Unverständnis. Aus England kann man derzeit entweder nur Nicht-Engländer wie Leroy Sané oder Frauen (siehe WM) importieren. Man kann nur beten, dass der neue Chelsea-Trainer Frank Lampard den jungen Callum Hudson-Odoi auf der Insel festhält. Sinnvoll erscheint nur das Bemühen um den 22-jährigen U21-Europameister Marc Roca von Espanyol Barcelona. Denn den Takt in Europa geben immer noch mit weitem Abstand die Spanier vor, gefolgt von Deutschland, wo man sich nach der erfrischenden
U21-Präsentation auf eine starke Olympia-Mannschaft freuen darf. Tokio 2020 sind – natürlich – Engländer-freie Spiele. Die ungesund, künstlich aufgepumpte
Premier League ist eine jämmerliche Retorten-Liga, in die sich manchmal ein Engländer verirrt (siehe ManCity, Liverpool, Chelsea, Arsenal, ManUnited).
Immer öfter ist man geneigt, dir, lieber Uli und Karl-Heinz Rummenigge zuzurufen: Stoppt Brazzo! Oder noch besser: Übernehmt die Transfers am besten selbst! Macht sie zur Chefsache! Auch wenn Reiner Calmund betont, dass der bemühte Salihamidzic keine Bratwurst sei. Was ist mit U21-Stars wie Florian Neuhaus, Marco Richter, Luca Waldschmidt?
Man sehnt sich nach den Zeiten, als du, lieber Uli, gezielt die Konkurrenten geschwächt hast, wie einst Schalke mit dem Transfer von Olaf Thon, Bayer Leverkusen mit dem Kauf von Michael Ballack, Ze Roberto und Paulo Sergio, Borussia Dortmund mit den Coups Robert Lewandowski und Mats Hummels.
Was ist es für ein jämmerliches Bild, wenn zum Trainingsstart am 8. Juli die Mannschaft aufgefüllt werden muss mit Jugendlichen und Spielern aus der zweiten Mannschaft? In fast all den Jahren zuvor hatte Bayern seine Hausaufgaben bereits im Frühjahr gemacht und die Transfers festgezurrt.
Mein Kollege Alfred Draxler, beileibe kein Bayern-Fan, stellte in seiner Kolumne „Nachgehakt“ die bange Frage: „Wenn man siebenmal in Serie Meister geworden ist, kann man auf dem Transfermarkt nicht viel falsch gemacht haben –
wann lösen die Bayern ihr U-Problem?“ Also ihr Nachwuchsproblem. Immerhin ist es Salihamidzic gelungen, Miroslav Klose, neben Oliver Kahn den Helden der WM 2002, als Trainer der U17 zu halten. Mit Ach und Krach. Je mehr Jugendliche Salihamidzic aus fußballerischen Entwicklungsländern holt, desto mehr verdörrt der eigene Nachwuchs. Nicht nur in der Juni/Juli-Hitze!
Immer wieder sprechen mich Fans auf deinen mittlerweile kultigen Spruch an: „Wenn ihr wüsstet, wen wir schon alles sicher haben…“ „Habt Geduld, legt nicht alles auf die Goldwaage“, sage ich dann.
Ich weiß doch, wie du tickst, lieber Uli. Seit 1970, als du zum ersten Mal für den FC Bayern den Ball berührt hast. Deine Aussagen sind oft antizyklisch. Demnach würde dein Satz bedeuten, dass du nur ablenken wolltest, weil Bayern – ausgenommen von Lucas Hernandez, Benjamin Pavard und Fiete Arp – noch niemanden hat.
Ich vermute allerdings, dass du dich innerlich schlapp lachst, weil Kai Havertz (20), voraussichtlich Fußballer des Jahres, eben erst 2020 von Leverkusen nach München kommt. Ähnlich wird es sich – auch wenn Bayern momentan kein Torwartproblem hat – mit Alexander Nübel (22) von Schalke 04 verhalten.
Ich bin mir sicher, dass Bayern nicht nur in den U-Mannschaften, sondern auch in der Bundesliga und in der Champions League 2020 wieder gut aufgestellt ist, vielleicht sogar schneller.
Zumindest die Urlaubsfotos der Stammspieler lassen Gutes vermuten. David Alaba platzt auf dem Brustkorb beinahe der Fitnessgürtel. Leon Goretzkas gute Figur unterm hautengen T-Shirt lässt schließen auf mehr. Thomas Müller strahlt wie immer erfrischend natürlich. Und wenn Mr. Sixpack Robert Lewandowski erst mal den Body von Fiete Arp sieht, wird er vor Neid erblassen.
Arp ist auch erst 19. Er kommt jedoch aus der Bundesliga. Das macht Sinn. Und nicht Talente von ganz weit her, die von ihren Beratern gehypt werden.
Und: Besonders gut hat mir gefallen, wie sich Fiete Arp von den HSV-Fans verabschiedet hat: „Ich hoffe durch die enorme Liebe, die ihr mir gegeben habt, gestärkt zum FC Bayern München gehen zu können. Um zu zeigen, dass Hamburger Jungs auch bei den Größten überzeugen und erfolgreich sein können.“
P.S.: Wer mich kennt, der weiß, dass mir, Sympathisant von Pep Guardiola, James Rodriguez, Xabi Alonso, Arjen Robben, u.a., ausländerfeindliches Gedankengut fern ist.
