Egal ob Supermacht oder LDC (Least Developed Country, am wenigsten entwickeltes Land), jedes der 145 WTO-Mitgliedsländer hat – anders als bei den Bretton Woods-Geschwistern IWF und Weltbank – eine Stimme. Das Mitspracherecht ist in der WTO nämlich nicht an die Höhe eines Mitgliedsbeitrags gebunden. Alle Entscheidungen über die mittlerweile 23 Einzelabkommen unter dem WTO-Dach werden im Konsens getroffen. Die Organisation ist „member-driven“ – die Mitglieder und nicht irgendein Führungsgremium bestimmen, was geschieht. Das Sekretariat in Genf führt lediglich aus. Heißt es. Stimmt aber nicht. Zwar sind die einmal getroffenen Entscheidungen für alle bindend, nur kommen diese Entscheidungen nicht in einem wirklich demokratischen Prozess zustande. Etliche Verfahren im Tagesgeschäft in Genf wie auf den großen, etwa alle zwei Jahre stattfindenden Ministerkonferenzen stehen nirgends in den Statuten, helfen aber, von den beiden „big players“ USA und EU erwünschte Ergebnisse vorzustanzen. Nachdem nach der letzten WTO-Ministerkonferenz in Doha/Katar wieder einmal etliche Süd-Delegationen klagten, sie seien über den Tisch gezogen worden, ging Aileen Kwa, Mitarbeiterin der Süd-NRO „Focus on the Global South“, die Sache systematisch an. In rund 30 Interviews mit Unterhändlern aus den Ländern des Südens – die meisten von ihnen sind aus nachvollziehbaren Gründen anonymisiert – sezierte sie die Achillesferse der WTO: den Entscheidungsprozess. Ihr auf diesen Gesprächen basierendes Buch „Power Politics in the WTO“ weist überzeugend nach, dass die Gesetze des Dschungels auch in einem repräsentativen Gebäude am Genfer See gelten.
Früher war alles anders. Als die WTO noch nicht erfunden war und auch die sie begründende Uruguay-Runde im Rahmen des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) noch in der ersten Halbzeit lag, waren die Entwicklungsländer eingebunden in die Blockkonkurrenz. Handelspräferenzen wurden nach Blockzugehörigkeits- oder Einbindungskriterien vergeben. Die LDCs verhandelten kaum in den GATT-Runden mit. Einseitige Zollerleichterungen entstanden außerhalb dieses Systems. Während der Uruguay-Runde fiel dann die Berliner Mauer. Ab da mussten die Entwicklungsländer sehen, wo sie ihre Brosamen abbekamen. Beim GATT und ab 1995 in der WTO saßen sie für die Konsensphase nunmehr zwar mit am Tisch, zu den voraufgegangengen Konsultationen im „green room“ hatte man sie aber nicht eingeladen. Den „green room“ gibt es offiziell eigentlich gar nicht, aber da man schließlich nicht immer alles im Plenum durchkauen kann, ergriffen die Großen immer wieder die Initiative und luden ein. Selektiv. Zu den Auserwählten gehörten in der Regel die Mitglieder der sogenannten Quad (USA, EU, Japan und Kanada), zusammen mit Australien, Neuseeland, Norwegen, der Schweiz, ein paar Transformationsländern und einigen handverlesenen Entwicklungsländern wie Argentinien, Brasilien, Chile, Mexico, Ägypten, Hong Kong, Indien, Pakistan, Südkorea und Südafrika. Natürlich keins der ärmsten Länder. Nach solchen „green room“-Debatten wurde bei der Ministerkonferenz von Singapur etwa die Aufnahme von Verhandlungen zu den „new issues“ in die Wege geleitet, den neuen Themen Investitionen, Wettbewerb, öffentliches Beschaffungswesen und Handelserleichterungen, die die Kompetenzen der WTO gefährlich in handelsfremde Gebiete ausweiten würden. Die vorverabredete Empfehlung kam auf den Tisch der Vollversammlung (Committee of the Whole – COW) und wurde ohne Debatte nach dem Konsensprinzip angenommen – denn es war ja niemand kopfschüttelnd aufgestanden. Konsens ist, wenn niemand dagegen ist. Praktisch. Manch einE VertreterIn des Südens mag gar nicht einmal so schnell mitbekommen haben, worum es gerade ging..
Der Lackmustest für die „demokratischste unter den existierenden internationalen Organisationen“, so der damalige WTO-Generaldirektor Michael More im März 2002 auf einer Konferenz in Qatar, war die Ministerkonferenz in Seattle. Der Test ging schlecht aus, nicht zuletzt weil sich die Delegationen auf der Katzenbank erstmals gemeinsam wehrten. Nachdem die Gruppe der afrikanischen Länder (African Group) in der laufenden Konferenz tagelang von Diskussionen ferngehalten worden war, gab sie ein Statement heraus, in dem sie drohte, keinerlei Verhandlungsabschluss mitzutragen, wenn sie nicht endlich mitreden dürfte. Das war ein Präzedenzfall. Noch nie hatten sich Entwicklungsländer gemeinsam verweigert. Wenige Stunden später verteilten eine Reihe von lateinamerikanischen und karibischen Staaten im WTO-Pressezentrum den verdutzten JournalistInnen ein ähnlich lautendes Schreiben. Spätestens ab da war die Konferenz auf der schiefen Bahn und stürzte am Ende ab.
Man gelobte Besserung. Die damalige US-Handelsbeauftragte Charlene Barshefsky, bekannt für ihre Taktik, die Nacht stur durchzuverhandeln, bis ihre erschöpften GegnerInnen mitzufallenden Augen zustimmten, gab zu, dass die WTO-Regeln und Gepflogenheiten der Menge der Mitglieder angepasst werden müssten. EU-Kommissar Lamy erklärte mit seltener Offenheit, was sich da in Seattle abspiele, sei mittelalterlich. Im Jahre 2000 wurden die Konsultationen in „green rooms“ reduziert. Unter norwegischem Vorsitz entstand ein Diskussionspapier zur Demokratisierung von Entscheidungsprozessen in der WTO. Doch das wurde eingedampft. Dessen letzte Version enthielt schließlich statt neuer Regeln maue Richtempfehlungen mit dem Duktus, man solle sich doch bemühen, dass...
Das neue Zauberwort war „capacity building“. Das Grundproblem sei mangelnde Verhandlungsfähigkeiten der Entwicklungsländer. Sie bräuchten mehr technische Unterstützung. Doch UnterhändlerInnen aus dem Süden sehen das anders. Nicht, dass sie nicht zu verhandeln wüssten. Der springende Punkt sei, dass die WTO in zentralen prozeduralen Fragen überhaupt keine Regeln habe, dass der Süden bei den entscheidenden Verhandlungen nicht mit am Tisch säße, dass Druck ausgeübt werde, dass Meinungen einfach nicht zur Kenntnis genommen würden oder dass man nach dem Grundsatz divide et impera Blockbildungen systematisch unterminiere.
Beispiele für Druck gibt es zuhauf. Bei der Genfer Ministerkonferenz (1998) unterbreiteten die USA eine Erklärung zum elektronischen Handel, die zunächst kein Entwicklungsland unterstützen wollte. Doch die USA nahmen eins nach dem anderen in die Mangel. Der Widerstand brach in sich zusammen. Mit der Wahl des neuen Generaldirektors war es 1999 genauso. Der Neuseeländer Mike Moore hatte nie die Unterstützung der Mehrheit der Mitglieder, wohl aber die der mächtigsten. Eine der perfidesten Strategien dieser Mächtigen Druck zu machen ist, die in Genf ansässigen VertreterInnen gegen die Hauptstädte auszuspielen. So riefen die USA oder die EU häufig Minister an – die bekanntlich in der Regel keine genaue Kenntnis des Sachstands haben – um sich über den jeweiligen Vertreter von dessen Land in Genf zu beschweren. Angeblich gefährde er oder sie durch eine unnachgiebige und engstirnige Haltung den positiven Abschluss der einen oder anderen Verhandlung. Auch nachdem die Like Minded Group (LMG: dazu gehören Cuba, Dominikanische Republik, Honduras, Jamaika, Ägypten, Indien, Indonesien, Kenia, Malaysia, Mauritius, Pakistan, Sri Lanka, Tansania, Uganda und Zimbabwe) mehr als hundert Vorschläge vorgelegt hatte, wie diejenigen WTO Abkommen von den Industrieländern umgesetzt werden könnten, die den Entwicklungsländern Vorteile bringen könnten (und gerade deswegen von den Industrieländern „vergessen werden“), gingen Anrufe in die Hauptstädte. Man wies in besorgtem Ton darauf hin, dass die Delegationen der LMG gerade dabei seien, den Entwicklungsländern einen Bärendienst zu erweisen, indem sie auf unerfüllbaren Forderungen pochten, ja sie verhielten sich im Grund wie Feinde im eigenen Lager. Prompt gab es Rückrufe aus Regierungszentralen und Anweisungen an die vermeintlichen schwarzen Schafe. Einzelne BotschafterInnen, wie die Ägypterin Fayza Aboulnaga, wurden auch schon versetzt. Niemand in Genf zweifelt daran, dass ihre Positionen daran schuld waren. Genauso erging es dem Botschafter der Dominikanischen Republik, Federico Cuello, und anderen. Merke: Willst du nicht mit Schande abberufen werden, sondern Karriere machen, sei zahm.