Realpolitik ist der neue Schlachtruf der Putinversteher. Selten hat es in Deutschland so viele Realpolitiker gegeben wie heute. Sie scheren sich wenig um internationale Normen, Völkerrecht oder gar von Russland unterschriebene Garantien zur Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine. Alles nur Humbug, so erfahren wir von jenen fröhlichen Zynikern der Außenpolitik. Allein Macht zähle. Und der Westen habe es versäumt, die legitimen Interessen Russlands an seiner Nachbarschaft zu berücksichtigen. Die Ukraine sei eben russisches Einflussgebiet, das habe man zu akzeptieren. Ohnehin sei Russland viel zu groß und zu stark, als dass man seine Interessen einfach ignorieren könne. Es gibt vieles, was an dieser Position seltsam ist. Angefangen bei der deutschen Faszination für starke Führer wie Wladimir Putin bis hin zur Bereitschaft, die osteuropäische Nachbarschaft Europas quasi ihrer staatlichen Souveränität zu entledigen und zur Verfügungsmasse Russlands zu erklären. Vor allem jedoch zeigt sich darin ein simplizistisches Verständnis von Realpolitik.
Ich sehe mich irgendwo in der Mitte zwischen Realpolitik und einer wertegebundenen Außenpolitik, bin also beleibe kein reiner Realpolitiker und stehe in vielerlei Hinsicht in Konflikt mit der reinen realpolitischen Lehre. Doch es handelt sich hier um die einflussreichste und wahrscheinlich intellektuell am stärksten ausgebildete Denkschule der auswärtigen Beziehungen. Und solch eine unreflektierte Vereinnahmung wie derzeit durch deutsche Putinversteher hat die Realpolitik nun wirklich nicht verdient.