Worms (Rheinlamnd-Pfalz)–
Eigentlich könnten sich Wolfram Schädler (76), Bernhard Wahl (74) und Michael Bauermann (77) ganz entspannt zurücklehnen und ihren Lebensabend genießen. EIGENTLICH …
Für den Schnürsenkel-Mord an Steffen H. (†21) sind die drei Top-Kriminalisten und -Juristen aus dem
Ruhestand zurückgekommen. Sie wollen den Fall wieder aufrollen, arbeiten sogar ohne Bezahlung. Denn sie sind sich sicher: Das Gericht hat geirrt! Es könnte noch immer ein Täter frei herumlaufen.
„Es gibt zu viel, was nicht passt“, sagt Schädler zu BILD. Als der ehemalige Bundesanwalt, der inzwischen als Opferanwalt arbeitet, von dem Fall erfuhr, trommelte er seine Bekannten zusammen.
Ein Ankläger, ein Profiler, ein Richter – alle drei einst in höchsten Ämtern, alle mit jahrzehntelanger Erfahrung*. Sie waren einig im Zweifel. Und so fing das Trio an, auf eigene Faust zu ermitteln …
Der Fall
Der 21-jährige Steffen Hartmann starb in der Nacht zum 17. Juni 2017. Das Gericht sprach Denis G. (27) schuldig, den jungen Mann in der Wohnung des gemeinsamen Freundes Patrick B. (33) mit seinem Schnürsenkel erdrosselt zu haben.
Denis G. hatte gestanden. Wegen heimtückischen Mordes verurteilten ihn die Richter zu neun Jahren und sechs Monaten Haft nach
Jugendstrafrecht. Patrick B. war während der Tat im selben Zimmer. Er bekam u.a. wegen unterlassener Hilfeleistung elf Monate auf Bewährung.
In jener verhängnisvollen Nacht war auch eine junge Frau in der Wohnung: Laura P. Sie kam ohne Anklage davon.
Die Zweifel
Was geschah wirklich in jener Nacht? Daran gibt es Zweifel. Denn die junge Frau soll ihre Version der Tat mehrfach geändert haben.
Sie habe beobachtet, wie Steffen um sein Leben kämpfte. Das soll sie seinem Vater Ulrich Hartmann nach dem Mord erzählt haben – so erzählt er es BILD.
Vor Gericht sagte Laura P. etwas anderes aus: Sie habe gesehen, wie Denis G. den Kopf von Steffen in einen Wassereimer gedrückt habe – ohne weitere Hilfe – als dieser schon tot war.
Die Fallanalyse
Es kann nur eine Variante stimmen. An dieser Stelle setzten die drei Senioren an. Um Lauras Aussage zu überprüfen, stellten sie den Tatablauf nach. Top-Profiler Bauermann sichtete dafür unter anderem Zeugenaussagen, Fotos des Tatortes und Chatnachrichten.
Für seine Fallanalyse organisierte er einen großen Raum im Jugendzentrum Wiesbaden, um die Tat mit Doubles unter realen Bedingungen nachzustellen. Bauermanns Fallanalyse bestätigt die Zweifel.
Steffen Hartmann und Denis G. gerieten demnach in Streit, kämpften. Seinem Gutachten zufolge dauerte es rund eine Minute, um den Schnürsenkel aus Steffens linkem Schuh zu lösen. Mindestens drei Minuten lang wurde das Opfer anschließend stranguliert – bis es tot war.
Für G. allein sei das unmöglich gewesen, stellt der Experte fest. Denis G. musste dabei „zwingend auf die Unterstützung angewiesen gewesen sein“.
Und noch etwas macht ihn stutzig: Nach dem Strangulieren, so schrieb es das Landgericht Mosbach in sein Gerichtsurteil, habe Denis G. den Kopf des Toten für fünf bis zehn Minuten ganz allein in einen Wassereimer getunkt.
„Auch das haben wir nachgestellt“, so der Profiler. Ergebnis: „Das ist anatomisch nicht möglich. Auch dafür brauchte er Unterstürzung.“
Was noch auffällt: Die Gerichtsmedizin stellte eine nicht tödliche Menge Wasser in Steffens Lunge fest. „Das geht nicht, wenn er beim Waterboarding bereits tot gewesen ist“, so Wolfram Schädler.
Die Schlussfolgerung der pensionierten Ermittler-Profis: Es muss anders gewesen sein: erst das Tunken, dann das Strangulieren.
Außerdem wurde auf Steffens Schuh DNA von Patrick B. gefunden. Bauermann schließt daraus, dass vermutlich nicht Denis G. den Schnürsenkel aus dem Schuh löste, sondern Patrick B.
Die Hoffnung
Wolfram Schädler und Bernhard Wahl haben Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft Mosbach (Baden-Württemberg.) eingereicht. Ihr Ziel: Laura der Falschaussage zu überführen. Denn dann wäre rechtlich ein Wiederaufnahmeverfahren möglich.
Schädler: „Durch die Nachstellung der Tat können wir jetzt nachweisen, dass Laura P. vor Gericht gelogen hat.“
Für Steffens Vater Ulrich Hartmann ist das nach all den Jahren endlich ein Hoffnungsschimmer. „Ich hatte die Hoffnung auf Gerechtigkeit schon verloren. Ich bin den drei Herren so dankbar, dass sie mich unterstützen. Dann kann ich bald endlich anfangen, damit abzuschließen“, sagt er.
Sein anschließendes Fazit: „Die in der Fallanalyse festgestellte Abfolge der Tat steht im völligen Widerspruch zu dem im Urteil festgehaltenen Sachverhalt.“
Und was sagt die Staatsanwaltschaft Mosbach?
Ein Sprecher zu BILD: „Die Staatsanwaltschaft wird nun anhand umfassender Würdigung des Beschwerdevortrags überprüfen, ob sie das Ermittlungsverfahren wieder aufnehmen wird; wie lange dies in Anspruch nehmen wird, kann derzeit nicht gesagt werden.“
Steffens Vater hat drei der erfahrensten Profis an seiner Seite. Sie werden nicht locker lassen. Bis die Zweifel schwinden.
*Die Rentner-Cops Die Senioren kennen sich seit Jahrzehnten, sind absolute Experten in Sachen Mord und Totschlag. Dr. Bernhard Wahl schrieb als Richter am Bundesgerichtshof 1999 im Fall des Pistazieneis-Mordes deutsche Rechtsgeschichte. Dr. Wolfram Schädler arbeitete als Bundesanwalt u. a. am Fall des Justizopfers Harry Wörz, kämpfte gerade vor dem Bundesverfassungsgericht um eine Gesetzesänderung. Dr. Michael Bauermann entwickelte für das BKA u. a. die „operative Fallanalyse“ und leitete die Ausbildung aller Profiler in Deutschland, ist ausgebildeter Diplom-Psychologe mit dem Schwerpunkt Forensische Psychologie.