Sie kamen 1996 nach Berlin. Was war da so in Mode?
Damals waren manche Anwälte in Moabit gutachterliches Entgegenkommen gewohnt und fanden es skandalös, dass ich nicht bereit war, schon vor Prozessbeginn am Telefon über das Ergebnis der Begutachtung zu verhandeln. Ich habe öfter, als es hier damals der Brauch war, jemanden für strafrechtlich verantwortlich gehalten. Eine Gruppe Berliner Verteidiger hat mich schließlich zwei Jahre lang als Gutachter boykottiert.
Erinnern Sie sich an einen besonders krassen Fall aus den 70er oder 80er Jahren?
Mehrere, einige finden sich auch in meinem Buch. Wie beispielsweise der eines jungen Mannes, der 20 Mal auf seinen Rivalen eingestochen hat, das reicht ja normalerweise für eineinhalb Tode. Danach hatte er die Leiche zerstückelt und in den Kanal geworfen. Weil man aber den Kopf nicht finden konnte, kam das Gericht zu dem Schluss, dass man ja nicht ausschließen könne, dass er nicht an den Messerstichen gestorben ist, sondern sich beim Kampf fatal den Kopf gestoßen hat. Also hat der Mann laut Urteil den Totschlag mit den Messerstichen nur versucht. Er kam nach zweieinhalb Jahren in die offene Abteilung. Jahre später stand er wegen Mordes am neuen Partner seiner Ex-Frau wieder vor Gericht.
Das ist doch absurd!
So etwas gab es in Berlin mehr als einmal. Wie bei dem Mann, der 1989 einem Trinkkumpan mit einem Survivalmesser fünfmal in den Rücken gestochen hatte und wegen Notwehr freigesprochen wurde. Dabei war das schon sein zweites Tötungsdelikt. Nach seinem dritten Totschlag hat er wieder auf Notwehr plädiert – jetzt allerdings vergeblich.
Was trieb die Richter zu solchen Urteilen?
Bei den Strafjuristen gab es seit 1968 den berechtigten Wunsch, vom wilhelminischen Umgang mit den Strafgefangenen wegzukommen: mehr Demokratie wagen, mehr Offenheit wagen, auch Straffälligen eine Chance geben. Das war wesentlich besser als vorher, aber es gab auch viel Naivität, die zu fatalen Folgen geführt hat. Damals war Resozialisierung das zentrale Motto. Dieser Gedanke ist leider verstorben.