EINE EROSION DES VERTRAUENS
Die Bürger sind skeptisch, ob ihr Land die massenhafte Einwanderung verkraftet. Der Politik trauen sie die Lösung des Problems nicht zu. VON RENATE KÖCHER
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Der Zeitpunkt, zu dem der Optimismus zusammenbrach und einer tiefen Besorgnis wich, lässt sich eindeutig auf den Spätsommer des vergangenen Jahres datieren. Die Flüchtlingskrise, die zu diesem Zeitpunkt eskalierte, erschütterte und alarmierte die Bevölkerung. Dass eine Regierung die Kontrolle über die eigenen Grenzen verliert und Hunderttausende unregistriert ins Land strömen, war zuvor für die Bürger kaum vorstellbar. Die anfangs von Medien und Politik gefeierte Willkommenskultur war weit von der Gemütslage der Mehrheit entfernt, die schockiert und beklommen war.
Mit den Flüchtlingszahlen bildete sich in diesem Jahr zwar auch die Beunruhigung der Bürger zurück. Die Mehrheit ist jedoch skeptisch, ob der Rückgang der Flüchtlingszahlen wirklich nachhaltig ist. Gleichzeitig sieht die Bevölkerung in den Flüchtlingen, die sich bereits im Land befinden und anerkannt oder zumindest geduldet sind, eine enorme Herausforderung, die die Herkulesaufgabe der ersten Unterbringung und Versorgung bei weitem übersteigt. 71 Prozent beurteilen die Integrationschancen skeptisch, lediglich jeder Fünfte ist hier zuversichtlich.
Das hat wenig mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Deutschland hat seit Jahrzehnten Millionen Bürger mit Migrationshintergrund. Die Mehrheit der Bevölkerung zählt aus anderen Ländern Zugewanderte zu ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis; das gilt insbesondere für die junge Generation, von denen die große Mehrheit mit ausländischstämmigen Kindern zur Schule gegangen ist. Die große Mehrheit zieht in Bezug auf diese Zugewanderten eine positive Bilanz, stuft sie als überwiegend gut integriert sein.
In Bezug auf die Flüchtlinge ist die große Mehrheit jedoch überzeugt, dass die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration eher ungünstig sind. Zu unterschiedlich sind nach der Einschätzung der Bürger die kulturellen Prägungen, zu groß der Rückstand an schulischer und beruflicher Bildung.
Dass vor allem gut Gebildete ins Land strömen und helfen, den Mangel an Fachkräften in einigen Branchen zu mildern, hielt die große Mehrheit zu keinem Zeitpunkt für plausibel. Die kulturellen Prägungen und Wertvorstellungen werden als völlig anders und fremd wahrgenommen. 90 Prozent der Bevölkerung sind überzeugt, dass sich Kultur und Wertvorstellungen der meisten Flüchtlinge gravierend von der deutschen Kultur und den anerkannten gesellschaftlichen Grundprinzipien unterscheiden. Die meisten denken hier nicht nur an die Gleichstellung von Mann und Frau oder die religiösen Überzeugungen, sondern auch an die Haltung zum Staat und die Bereitschaft, die Gesetze einzuhalten. Auch in Bezug auf die Kindererziehung und die Leitvorstellungen für das Familienleben unterscheiden sich nach der Einschätzung der großen Mehrheit die Vorstellungen gravierend.
Diejenigen, die in den letzten zwölf Monaten häufiger Kontakte zu Flüchtlingen hatten, sehen dies nicht wesentlich anders als der Durchschnitt der Bevölkerung. Sie betonen die unterschiedlichen Prägungen teilweise sogar noch stärker; dies gilt insbesondere in Bezug auf die Leitideen für das Familienleben und die Kindererziehung. Lediglich in Bezug auf die Einstellungen zum Staat und die Bereitschaft, sich an den geltenden Gesetzen und Regeln zu orientieren, sehen diejenigen, die in den letzten Monaten häufiger Kontakte zu Flüchtlingen hatten, tendenziell weniger Schwierigkeiten als der Durchschnitt der Bevölkerung. 61 Prozent der gesamten Bevölkerung, 55 Prozent der Bürger, die häufiger Kontakte zu Flüchtlingen hatten, gehen von signifikanten Unterschieden bei der Einstellung zum Staat und der Bereitschaft, Gesetze und Regeln einzuhalten, aus. In Bezug auf die Gleichstellung von Mann und Frau sehen 93 Prozent der gesamten Bevölkerung, 95 Prozent derjenigen mit Kontakten zu Flüchtlingen gravierende Unterschiede zwischen den Prägungen der Flüchtlinge und der deutschen Bevölkerung.
Die Bevölkerung hat klare Vorstellungen von den Voraussetzungen einer erfolgreichen Integration: rascher Erwerb von Sprachkenntnissen, Integrationsbereitschaft, die Akzeptanz der Grundprinzipien der deutschen Gesellschaft, insbesondere der Gleichstellung von Männern und Frauen, Bildungsinteresse und die Bereitschaft, unter Deutschen zu leben, und sich nicht abzuschotten.
Die Bürger verstehen unter Integration nicht Assimilierung. Sie halten es jedoch für wichtig, dass bei ernsten Konflikten zwischen den kulturellen Prägungen aus dem Herkunftsland und der deutschen Kultur die Letztere den Vorrang hat. Der Begriff der Leitkultur, der in der öffentlichen Diskussion immer wieder zu Kontroversen führte, ist für die große Mehrheit kein Reizwort, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ob Integration gelingt, hängt nach Überzeugung der meisten auch von der Entschiedenheit ab, mit der wesentliche Grundprinzipien im Alltag durchgesetzt werden. Dass beispielsweise weibliche Ärzte zurückgewiesen werden oder Frauen der Handschlag verweigert wird, ist nach Überzeugung der großen Mehrheit nicht tolerierbar.
Die Beunruhigung über die noch lange nicht erfolgreich bewältigte Flüchtlingswelle ist jedoch nicht die einzige Quelle von Verunsicherung. Die Terroranschläge und Attentate in Frankreich, Belgien und neuerdings auch Deutschland unterminieren das Sicherheitsgefühl der Bürger.
Die Anschläge kamen für die Mehrheit keineswegs überraschend. Schon vor der Anschlagsserie fürchteten drei Viertel der Bevölkerung, dass es in absehbarer Zeit zu einem Terroranschlag in Deutschland kommt. Nach den Anschlägen waren ebenfalls drei Viertel überzeugt, dass dies erst der Anfang ist und weitere Anschläge drohen. 58 Prozent fürchten, dass man in Deutschland nie mehr so sicher leben kann wie zuvor. Knapp zwei Drittel haben sogar das Gefühl, dass Terror und Gewalt mittlerweile zu unserem Alltag gehören. Die Gefahren, die von radikalen islamistischen Gruppierungen für Deutschland ausgehen, treten immer mehr ins Bewusstsein der Bürger. Vor zehn Jahren veranschlagten 45 Prozent diese Gefahren als groß, im letzten Jahr bereits 68 Prozent, jetzt 77 Prozent.
Die wachsenden Sorgen über Terrorgefahren treffen auf ein gesellschaftliches Klima, das ohnehin von wachsender Besorgnis um die innere Sicherheit geprägt ist. Schon seit Jahren nimmt die Besorgnis über die Entwicklung von Gewalt und Kriminalität zu. Der Anteil der Bevölkerung, der sich in diesem Zusammenhang Sorgen macht, stieg seit 2014 von 52 auf 82 Prozent. Insbesondere Frauen haben heute den Eindruck, dass sie sich nicht mehr in ihrem Umfeld so frei bewegen können wie früher, ohne sich Risiken auszusetzen. Auch Einbruchdiebstähle beunruhigen der Bürger zunehmend. Zu diesen Risiken im Nahbereich kommt die Sorge, dass Deutschland in internationale militärische Konflikte hineingezogen werden könnte. Für zwei Drittel der Bürger ist dies eine reale Gefahr.
Die Zusammenballung von Risiken hat nicht nur das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung unterminiert, sondern auch das Vertrauen in die Politik. Insbesondere die Reaktion der etablierten Parteien auf die Flüchtlingskrise hat zu einer tiefen Entfremdung und zu Misstrauen geführt, ob sich die Ziele und Vorstellungen der Politik überhaupt noch näherungsweise mit denen der Bürger decken. Die politische Reaktion auf die Eskalation der Flüchtlingskrise war und ist teilweise noch von einem bemerkenswerten Konsens der im Parlament vertretenen Parteien geprägt. Von der Linken über die Grünen bis zu CDU und SPD wurde die Flüchtlingspolitik im letzten Jahr weitgehend mitgetragen – eine ungewöhnliche Konstellation bei einem Ereignis von derartiger Tragweite und Sprengkraft.
Der Schock, die Besorgnis der Mehrheit, hatte im Parlament kaum eine Stimme und wurde so politisch nicht aufgefangen. Dazu kam zeitweise eine Medienberichterstattung, die im Verbund mit dem breiten Konsens im Parlament ein gesellschaftliches Klima beförderte, in dem die Mehrheit der Bevölkerung plötzlich den Eindruck hatte, dass man vorsichtig sein müsse, sich überhaupt mit seiner Meinung zur Flüchtlingssituation zu exponieren. Die Berichterstattung der Medien zu diesem Thema wurde im letzten Jahr überwiegend kritisiert bis hin zum Vorwurf der „Lügenpresse“, der weit über den Kreis der Pegida- und AfD-Anhänger hinaus erhoben wurde.
Eine Folge des Eindrucks, weder in Medien noch in der Politik mit den eigenen Sorgen und Positionen Verständnis zu finden, war die Renaissance und Stärkung der AfD. Noch im Frühsommer letzten Jahres war sie durch die Abspaltung des Lucke-Flügels und die internen Querelen so geschwächt, dass sie deutlich unter 5 Prozent lag. Mit der Flüchtlingskrise und der Reaktion der im Parlament vertretenen Parteien auf diese Herausforderung nahm die Unterstützung für die AfD steil zu. In diesem Jahr bewegen sich die Zweitstimmenwahlabsichten zugunsten der AfD bisher zwischen 10 und annähernd 13 Prozent. Sämtliche Landtagswahlen sind zurzeit von diesem Höhenflug geprägt. Die Reaktion vieler Bürger auf die Erfolge der AfD bei Landtagswahlen zeigt eine Verbitterung über die im Parlament vertretenen Parteien, die weit über den Kreis der AfD-Anhänger hinausreicht. Nach den Landtagswahlen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz begrüßten 46 Prozent der Bürger das Abschneiden der AfD mit dem Argument, dass die etablierten Parteien einen derartigen Denkzettel brauchen.
In der öffentlichen Diskussion wurde in den letzten Monaten immer wieder die AfD als das eigentliche Problem und Risiko dargestellt. Das eigentliche Problem ist jedoch der Vertrauensverlust der etablierten Parteien, die AfD das Ergebnis dieser Vertrauenserosion. Die Mehrheit der Bevölkerung kann bei keiner Partei überzeugende Konzepte für den Umgang mit der Flüchtlingssituation erkennen.
Dies schwächt besonders die Partei, die in der Verantwortung ist und die immer weitaus mehr als andere Parteien als Garant von Sicherheit gesehen wurde und in abgeschwächter Form auch noch gesehen wird – die CDU. War bei der letzten Bundestagswahl sogar die absolute Mehrheit in Reichweite, schwankt sie zurzeit in der Bandbreite zwischen 33 und 35 Prozent. Die anderen im Bundestag vertretenen Parteien profitieren davon kaum, sondern müssen auch kämpfen, um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Das ist angesichts der zahlreichen Krisen, für die es keine einfachen Lösungen gibt, nicht leicht. Gerade in diesem Umfeld wird Vertrauen rasch zerstört, aber nur schwer restauriert.