Ego ist stolz [1]
„Sei still!“ Robert Messled ging aufgeregt raschen Schrittes durchs Zimmer, seine Hände gegen seine Schläfen gepresst.
Doch die Stimme in seinem Kopf dachte nicht daran still zu sein: „Du bist ein Nichts! Du hast nichts erreicht! Du wirst nie etwas erreichen! Du hältst dich für erwachsen, doch bist von zig anderen Menschen abhängig!“ Ohne Luftholen, ohne Pause. Die Worte prasselten auf ihn herein wie ein plötzlicher Wolkenbruch, jeder Tropfen schwer und einzeln spürbar und doch erfüllten sie ihre Aufgabe des Niederdrückens erst in ihrer Gesamtheit.
„Sei still! Sei still! Sei endlich still! Ich kann es nicht mehr hören!“ An Schläfen und Hals traten pulsierende Adern hervor, er blieb aufgebracht stehen, stützte sich mit den Handflächen scheinbar erschöpft gegen die Wand und blickte aus dem Fenster auf die kahlen Bäume, nur um sich binnen einer Sekunde wieder abzustoßen und den ziellosen Gang durch die Küche fortzusetzen.
„Weil du die Wahrheit nicht ertragen kannst?“ Gehässigkeit und Schadenfreude schwangen in der Stimme mit.
„Das ist nicht die Wahrheit! Ich wohne alleine, ich kriege alles super hin!“, schrie er in die Leere des Raumes. „Deine Miete zahlt der Staat.“ Er hatte den Mund noch nicht ganz geschlossen, als die Entgegnung schon ausgesprochen war und ähnlich verhielt es sich mit jeder Entgegnung, als wüsste sein eigentlich gar nicht vorhandenes Gegenüber schon im Voraus, was er zu seiner Verteidigung vorbringen wolle.
„Ich mache in ein paar Monaten mein Abi!“ – „Du hast nie dafür gelernt, dir ist ein mittelmäßiges Abitur in den Schoß gefallen.“ Nun herrschte sekundenlange Stille. Robert dachte angestrengt nach: das war völlig absurd. Er unterhielt sich nicht nur mit dieser Stimme, die nur in seinem Kopf existent war – und dessen war er sich bereits jetzt nahezu sicher – er versuchte darüber hinaus auch noch, sich vor ihr so verzweifelt zu rechtfertigen, wie ein Kind, dem die wahrheitsgetreuen Unschuldsbekundungen nicht geglaubt werden. Dennoch konnte er diese Vorwürfe nicht einfach auf sich sitzen lassen!
„Es gibt Menschen, denen ich wichtig bin!“ Oh ja, die gab es wirklich. Er hatte seine Freundin, seine Familie und auch sein Freundeskreis schätzte ihn sehr. Doch die Antwort kam erneut sofort: „Die du nicht verdient hast! Weil du nichts bist, ihnen nicht geben kannst, was sie verdienen. In keiner Hinsicht.“ Jetzt wurde es ihm zu bunt, er hob bedrohlich die Stimme: „Hör auf damit!“ – „Erst, wenn du es akzeptierst.“ Robert schüttelte den Kopf. Es war absurd. Völlig abwegig, unlogisch. Er würde diesen Dialog – wenn man es denn so nennen konnte – beenden, einfach nicht mehr antworten. Doch ein Teil von ihm schien ununterbrochen auf eine Antwort zu drängen, die er nach einigem weiteren Zögern und auf das Drängen eines anderen Teils seiner selbst schließlich doch gab, in der Hoffnung, das Thema wäre damit beendet: „Nein!“ Fest und unumstößlich. „Dann wirst du mich nicht los.“ Auch die letzte Antwort kam ohne die geringste Bedenkzeit der Stimme.
Robert schrie laut auf, nahm über zwei-drei Schritte hinweg etwas Schwung auf und schlug mit der Faust gegen den Rauputz der Betonwand. Eine Explosion von Schmerz fuhr durch seine Nerven und beanspruchte die gesamte Kapazität des Gehirns, sein Puls raste nach oben; alle Synapsen richteten sich aus wie Metallspäne in Magnetfeldern und empfingen die Schmerzempfindungsbefehle der Nerven. Es tat höllisch weh, er hielt die Luft an und bekam keinen Ton heraus - aber die Stimme war verschwunden.
Ähnliche Szenen mit mehr oder weniger ähnlichen Vorwürfen der Stimme ereigneten sich nun immer öfter, zuerst einmal in zwei Wochen, dann alle sieben Tage, bis es Tage gab, an denen Georg die Stimme sechs- oder siebenmal hörte.
Je lauter er der Stimme widersprach, desto lauter wurden ihre Vorwürfe.
Je mehr er die Behauptungen dementierte, desto spezieller und überzeugter klangen sie.
Je schneller er das Gespräch beendete, indem er seinen Körper komplett auf Schmerz fokussierte, desto schneller musste er sich wieder rechtfertigen.
So traute er sich nach mehreren Disputen mit der Stimme in seinem Kopf – er hatte sie, weil er es als nahe liegend erachtete und sie weniger erschreckend erscheinen lassen wollte, auf den Namen ‚Ego’ getauft – schon nicht mehr aus seiner Wohnung, aus Angst, Ego könnte ihn in der Öffentlichkeit überraschen. Auch die Anrufe und Briefe der Menschen, die ihn liebten und vermissten, konnten ihn nicht beirren. Lieber wollte er ihnen die Sehnsucht nach und Sorge um ihn zumuten, als sich selbst die Blamage, dass seine psychische Krankheit – und etwas anderes konnte es nicht sein – publik wurde und so beantwortete er jede Kontaktaufnahme mit ihm einsilbig und sporadisch.
Doch je länger er sich einsperrte, je endgültiger er sich isolierte, desto häufiger erschien auch Ego.
Fast täglich hörte er ihn nun, die Knöchel seiner Hand waren mittlerweile vermutlich mehrfach gebrochen und das ein oder andere mal unkontrolliert wieder zusammengewachsen, Stellen, wo die Haut vom Wandputz aufgerissen war, brannten fürchterlich; doch er konnte sich nicht beherrschen, da ihm der schmerzende Schlag als einzige Möglichkeit bekannt war, Ego verstummen zu lassen, einfach alles auf den Schmerz fokussieren, keine Gehirnzelle durfte fähig sein, auch nur in Erwägung zu ziehen, auf Egos Stimme zu hören.
Seine Hand zitterte beim Greifen nun so stark, dass er den Telefonhörer nicht mehr abnehmen wollte, das Klingeln einfach ignorierte, bis er es irgendwann schon gar nicht mehr bemerkte. Vom Briefeschreiben konnte unter diesen Umständen natürlich überhaupt keine Rede sein und so hatte sein Umfeld seit Tagen kein Lebenszeichen von ihm erhalten.
„Du bist ein Nichts!“ Nicht schon wieder! Bitte nicht schon wieder! Er stand in der Küche, schnitt Brot mit einem großen Messer, das er letzte Woche erst am Schleifstein bearbeitet hatte. Es schnitt wie neu, das Brot wurde sauber und ohne Anstrengung vom Laib gelöst.
„Akzeptiere es!“, tönte Egos Stimme. „Lässt du mich dann endlich in Ruhe?“ Er schrie, fast hysterisch. Jede Faser seines Körpers war auf die Stimme konzentriert, das Messer lag lose in der rechten Hand, er rührte sich keinen Millimeter, sah man vom sich heftig hebenden und senkenden Brustkorb ab; er atmete jetzt ziemlich heftig, hyperventilierte fast, sein Blick war nach innen gerichtet.
„Akzeptiere, dass du nichts bist! Nichts wert! Nicht verdienst zu leben!“ – „Ich akzeptiere es! Ja, verdammt, ich akzeptiere es!“, stürzte es aus ihm heraus, dass er die Worte nicht halten konnte. Er regte sich nach wie vor nicht, diesmal von seinem Gesicht abgesehen, dass sich bei seinem Ausbruch zu den schreckenerregendsten Fratzen verzerrte. Seine glasigen, unruhigen Augen waren weit aus ihren Höhlen getreten.
„Ich akzeptiere, dass ich es nicht verdient habe zu leben!“ Er stützte sich auf die Arbeitsfläche, das Messer in der Hand, den Wahnsinn ins Gesicht geschrieben – nein: geradezu gemalt. Die Lippen waren leicht geöffnet, zu einem grotesken Grinsen verzogen, die hervortretenden Augäpfel verfärbten sich langsam gelblich, die Pupillen, fast die gesamte Iris verdeckend, ziellos hin und her zuckend, die Gesichtsfarbe fast völlig weiß.
„Denk an die Konsequenzen der Akzeptanz...“ Der Satz hallte unzählige Male in seinem Kopf wider und mit jeder Wiederholung klang er hämischer und schadenfroher.
Seine Schläfen pochten. Klares Denken war nicht möglich, in seinem Kopf tobte unaufhörlich der dumpfe Ton des Blutes, das durch seinen Kopf gepresst wurde, nur noch unterbrochen von der Stimme Egos.
Diese war mittlerweile jedoch zu einem leisen Flüstern abgeebbt und einzelne Worte waren nicht mehr erkennbar. Es machte ihn verrückt. Angestrengt versuchte er, irgendetwas heraushören zu können, doch scheinbar wurde die Stimme leiser, je mehr er es versuchte und je mehr er es versuchte, desto kürzer stand er davor, durchzudrehen. Er explodierte fast, es war ein – ein - völlig unbeschreibliches Gefühl, das an jeder Stelle seines Körpers, insbesondere am Kopf, von innen zu versuchen schien, ihn zu zerreißen.
Dann sah er – er spürte es nicht einmal – wie sein rechter Arm sich langsam von der Arbeitsfläche hob, die Sehnen angespannt wurden, um den Griff der Finger um den Messergriff zu verstärken. Seine stark geschädigte Hand fing wieder zu zittern an, doch je fester die Hand zupackte, desto erträglicher wurde das Gefühl, gleich zu explodieren – so dass zumindest ein Gefühl ihm bewies, dass seine Hand sich gerade tatsächlich bewegte.
Er selbst schien wie in einen undurchdringlichen Nebel eingeschlossen, der seine Motorik, Gedanken und Wahrnehmung völlig ausschaltete. Poch – Poch – Poch – Geflüster.