Salon-Anarchistisches Manifest - 19.08.2003
Ein Gespenst geht um in Europa, und auch im Rest der Welt. Es ist das Gespenst der Toleranz und des Pluralismus; das Gespenst vom sozial sein, es isst seinen Teller leer, wegen der armen Kinder, welche in Afrika verhungern. Es akzeptiert Deine Meinung, weil es Angst vor Auseinandersetzungen hat; das Gespenst der verrotteten Linken.
Wir, die Salon-Anarchisten und Salon-Anarchistinnen, sind die Ghostbusters, welche gegen dieses Gespenst ankämpfen.
1. Wir haben Recht
Es gibt nicht Deine Meinung und unsere Meinung, es gibt nur die Wahrheit, und die haben wir mit einem grossen Löffel gefressen. Leider ist es mit der Wahrheit so eine Sache: Sie zeigt sich nie direkt, sondern manifestiert sich in der Realität. Auch wir sind vor Missinterpretationen nicht gefeit. Solltest Du einen Fehler in der Matrix unserer Interpretation der Realität entdecken, so weise uns darauf hin und belehre uns eines besseren.
2. Wurzeln sind für Botaniker und Kieferchirurgen
Der Mensch in der Hölle stank und grunzte. Wir wollen aber weder grunzen noch stinken, deshalb begrüssen wir die Erfindung des Deodorants und des Mobiltelefons und wehren uns gegen Back to the roots-Bewegungen.
Jeder und jede soll stinken und grunzen können, wenn sie oder er dies will, doch jeder und jede soll die Freiheit haben, sich wie ein zivilisierter Mensch zu benehmen.
3. Die grosse Dosenbierfrage
Auch wir Salon-Anarchistinnen und Salon-Anarchisten sind nicht ohne Uneinigkeit in einem gewissen Punkte. Doch gerade die Menschlichkeit unseres Konfliktpunktes bestätigt die Richtigkeit und Bodenständigkeit unserer Realitätswahrnehmung. Der Grund vieler Debatten in unserer Bewegung ist an jedem guten Bahnhofskiosk zu finden, in Wurstbuden, in Bandräumen und in der Elvetino Rail-Bar: das Dosenbier.
Die eine Fraktion unseres weltumspannenden salon-anarchistischen Netzwerks hat mit dem monumentalen Ausspruch: "Dosenbier? Pfui, hau ab!" einen ganz klaren Standpunkt bezogen. So sei Dosenbier ungeniessbar und eines Menschen nicht würdig.
Die andere Fraktion hat ein nicht minder monumentales Statement verlauten lasse, das da heisst: "Nur mit Dosenbier ist eine Zugfahrt wirklich lustig, eine Zugfahrt wirklich froh!" Flaschenbier oder gar Bier aus Gläsern habe in einem Zug einfach nichts verloren, und es gäbe nichts schöneres, als die vorbeiziehende Landschaft durch das Zugfenster eines stickigen Raucherabteils zu beobachten, und dazu dem Klang eines zischenden Dosenbierverschlusses zu lauschen.
Um dieses Politikum entflammen kontinuierlich neue Wortgefechte. Als Höhepunkt der Debatte ist wohl eine wüste Schlägerei in den frühen Morgenstunden am Neujahrstage im Jahre 2001 zu verzeichnen. Am glamourösen salon-anarchistischen Kongress einigten sich die Fische im Strom des Salon-Anarchismuses jedoch darauf, weine verbindliche Beantwortung der Dosenbierfrage auf die postrevolutionäre Zeit zu verschieben, wobei eine Bewältigung des Konflikts notfalls mit Waffengewalt erreicht werden soll.
4. Krieg den Hütten, Dampf in den Palästen
In der salon-anarchistischen Strömung herrscht ein klarer Villenanspruch. Einige übereifrige Personen in unserem Kreise wollten gar einen Villenzwang einführen, sie scheiterten jedoch am Punkt fünf des Manifests, auf den später noch intensiv eingegangen werden soll.
Durch Bilder aus Monaco und Nizza auf den Geschmack gebracht, sind wir uns einig, dass in einer Villa zu wohnen jeder Salon-Anarchistin, jedem Salon-Anarchisten gefallen würde. Mit Pool und dampfender Sauna versteht sich!
5. Sollen doch alle tun, was sie wollen
Wieso auch nicht?
6. Ich lebe, also bin ich der verdammte Mittelpunkt des Universums
Der Salon-Anarchismus setzt sich für ein viel zu oft zu unrecht verschmähtes Phänomen ein, den guten alten Egoismus. So hegen wir grosses Misstrauen gegenüber Leuten, welche sich selbstlos einer Sache hingeben. Wir fragen uns dann, wieso wollen die sich loswerden? Stehen die etwa nicht hinter der Sache, für die sie sich hingeben? Da will sich vielleicht jemand aus dem Staub machen, Vosicht!
Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, ergreifen wir zwei Massnahmen. 1. Wir erklären das Ich zum Zentrum des Universums, ohne Ich, kein Universum, ohne Universum, keine Party; deduktiv erkannt: Ohne Ich, keine Party. 2. Wir verteilen Selbst-Lose, oder auch liebevoll Selbst-Lösli genannt. Diese können zusammen mit einer Zeichnung oder Kunstfotografie der favorisierten Parkbank an uns eingeschickt werden, wonach es dann tolle Preise zu gewinnen gibt.
7. Luxus, bzw. von den Primaten
Luxus entspricht einem menschlichen Bedürfnis, welches in der revolutionären Linken viel zu oft unterbewertet wird. So gibt es viel zu wenige anarchistische Cüpli-Buffets, kommunistische Schmuck- und Uhrenmessen und autonome Golfturniere. Dinge wie diese dürfen jedoch nicht einfach den Reaktionären überlassen werden, da dies den Eindruck vermitteln könnte, nur in einer kapitalistischen Gesellschaft könne arrogant rumgesnobt werden, was wohl jedem Gemüt zwischendurch mal gut tut. Also rein in den Golfhandschuh, wer sich da revolutionär nennt!
8. Toleranz, nein danke
Niemandem ist die Situation wohl unbekannt: Du hast gerade durch geschicktes Kombinieren verschiedenster Marx- und Bakuninzitate (von denen Du gut die Hälfte spontan erfunden hast) Deinem Gegenüber klar gemacht, wieso sein Standpunkt auf Schwachsinn beruht, und das Gegenüber weiss nicht besseres, als Dir an den Kopf zu werfen: "Nun sei mal nicht so intolerant und akzeptiere, dass ich anderer Meinung bin."
Im Idealfall bekommst Du jedoch zu hören: "Toleranz ist für Dich wohl ein Fremdwort?" Und dann hat Deine Stunde geschlagen, auf dieses Aufmucken hast Du ja nur gewartet, na, dem wirst Du's zeigen: "Ja!", rufst Du salon-anarchistisch frohlockend, "Ja! Ein Fremdwort, und nichts anderes!"
Kein Salon-Anarchist, keine Salon-Anarchistin, der oder die das Wort Toleranz nicht abgrundtief hasst. Toleranz, dieser Debattenkiller, Beschimpfungsblockierer: reine Esoterik.
Wie gesagt, es gibt die Wahrheit einerseits, es gibt Unwahrheit andererseits, deshalb haben wir Toleranz zum mühsamsten Begriff seit der Ära des Neolithikums erklärt.
Fazit: Bleibt bei so viel Weisheit noch Platz für Grössenwahn? Unseres Erachten dürfen wir diese Frage ohne schlechtes Gewissen mit "nein" beantworten. Pröstchen