Original geschrieben von Mongo-Styler
Du musst bei zwischenmenschlichen Beziehungen differenzieren!
Nein, denn ich behaupte, dass in jeder Form von Interaktion eine ehrliche, wahrheitsgemässe Kommunikation möglich ist.
Wir leben in einer Gesellschaft in der wir täglich mit zig Menschen interagieren. Sei es beim Einkaufen, in der Straßenbahn oder bei der Arbeit. Und diese Beziehungen dauern teils ne halbe Minute, teils 20 Minute und teils den halben Tag!
Symbolischer Interaktionismus. Ich weiss, was du meinst, nachher mehr dazu
.
Jetzt ist es aber so, dass ich an einer dauerhaften zwischenmenschlichen Beziehung zu einer Wurstfachverkäuferin in keinstem Maße interessiert bin und daher auch meine Bereitschaft ihr mein "wahres ICH" zu zeigen gleich Null ist!
Hast Du Angst, die Wurstfachverkäuferin könnte Dein wahres Ich entwerten?
Sicher nicht. Welchen Grund gibt es, sie anzulügen? bzw. in wie weit lässt die Interaktion überhaupt Raum dafür?
Denn ein Aspekt von Moralischen Normen ("Du sollst nicht lügen" ist definitiv eine moralische Norm) ist die Zweckmäßigkeit. Und diese ist bei kurzen, Zweckgebunden Beziehungen nicht mehr vorhanden!
Zweckmäßigkeit ist nicht gleich Eigennutz. Warum sollte es schädlich sein, oder unzweckmässig, einer Verkäuferin gegenüber ehrlich zu sein? Davon abgesehen, dass Zweckgebundene Beziehungen meist auf einer Sachebene kommunizieren, so dass die Interaktion durch den Gegenstand des Zusammentreffens definiert wird, beim EInkaufen ist dies eben das Zahlen an der Kasse. Inwiefern siehst Du dort gerechtfertigten Raum für Lügen??? Wenn die Kassiererin tatsächlich Fragen an Dich über Deine Person richtest, hast Du immernoch 10000 Möglichkeiten die Wahrheit zu sagen, ohne auf ihre Interaktionsstruktur einzugehen.
Und das strikte vermeiden von Lügen führt unweigerlich zu Kooperationsproblemen.
Falsch. Warum sollte es das? Wenn ich mit jemanden kooperieren möchte, dann kann ich das in einen Rahmen tun, der dem Sachverhalt gegenüber angemessen ist, über dessen Ausmasse ich verfügen kann (das Gegenüber ebenso, siehe "Symbolischer Interaktionismus"), ohne dass ich zu Lügen gezwungen bin. Ich sehe kein Argument für Deine These, Lügen seien notwendig um ein konfliktfreies Miteinander zu gewährleisten.
Sicher ist die Beziehung zu Menschen, die man in der U-Bahn, oder im Supermarkt trifft, recht kurz, doch baut man eben darum auch keine intensive Beziehung auf. Dies rechtfertigt zwar den Einwand, dass man dann auch keine solide Beziehungsbasis benötigt (diese kann nur auf Grundlage von Wahrheit entstehen), rechtfertigt aber nicht, warum man Lügen muss.
Ein Beispieldialog, Kassiererin im Suptermarkt:
Kassiererin: Guten Tach!
Ich: Guten Tag.
*zieht Zeug über den Pieper* *biepbiepbiep*
Kassiererin: Das macht dann 22,97.
Ich: Oh, tschudligung, habs ganz vergessen, könnt ich noch Zigaretten haben?
Kassiererin: Das macht dann 27,57 Euro.
Ich: Einen Moment. *wühlt im Geldbeutel* *zahlt*
Ich: Danke schön, schönen Tag noch.
Kassiererin: Tschüss. Gleichfalls.
Wo war in dieser Interaktion ein Raum gegeben, in dem zur Konfliktvermeidung eine Lüge notwendig gewesen wäre???
Naja, nochmal grundlegend zum symbolischen Interaktionismus:
Kernaussagen:
Während die strukturfunktionale Theorie Sozialisation gleichsam aus der Zuschauerperspektive (oder auf der Makro-Ebene) betrachtet, geht der Interaktionismus von der Perspektive der Teilnehmer (oder von der Mikro-Ebene) aus. Die alltägliche Interaktion steht im Mittelpunkt. [...] Mead macht den Grundcharakter menschlicher Interaktion am Unterschied zwischen Mensch und Tier klar: Teire reagieren auf Reiz (oder die "Geste", wie Mead sagt) eines anderen Tieres, ohne nach dessen Intention oder Bedeutung zu fragen (die Demutsgeste eines Hundes löst beim Angreifer instinkthaft die Beißhemmung aus). Anders die Menschen: Wir gehen in der alltäglichen Interaktion davon aus, dass die sprachlichen (als dem wichtigsten Symbolbereich) Äußerungen eines anderen intendierte und von mir verstehbare (also gemeinsame) Bedeutung haben. Entscheidend ist dabei, dass ich (Ego) mich an der Sichtweise des anderen (Alter) versetzen kann, die Kommunikation also mit dessen Augen sehen kann (Perspektivübernahme). Ego antizipiert also die Sichtweise und Erwartungen des Alter, kann so "einschätzen", wie Alter reagiert. Dasselbe tut Alter. Wir interpretieren also wechselseitig in der Interaktion unsere Rollen und handeln entsprechend. Diesen Prozess nennt Mead role-taking...
Soweit erstmal. Der grundlegende Gedanke im Text sollte klar sein, und ich nehm ihn mal als Prämisse für Folgendes. Wenn also eine Interaktion wesentlich aus der Interpretation des Gegenübers besteht, dann steht die Grundhaltung, Lügen seien ein probates Mittel, dem sogar gegenüber, da man dadurch Alter die Möglichkeit zur Interpretation erschwert, bzw. diese bewusst umleitet (Manipulationscharakter!). Das dadurch Konflikte vermeidbarer werden, leuchtet mir nicht ein. Eine transparente Interaktion (also eine, in der Ego und Alter bemüht sind dem Anderen die Interpretation möglichst leicht zu machen), hingegen ermöglicht einen konfliktfreien Umgang, ohne dass man das Instrument Interaktion für seine Zwecke missbraucht (was Alter übrigens auch tun kann, und was dann zu schönen Tauziehdelikten werden kann). Nun könnte man meinen, wenn Alter aber lügt, also meine Interpretation fehlleitet um sein Ziel zu erreichen, dann kann man davon ausgehen, dass bei einem bewussten Umgang mit der Interaktion Alter dies nicht erreichen wird, wenn Ego Wert auf Transparenz legt (denn diese kann beim Lügen nicht authentisch dargestellt werden, was widerrum wahrnehmbar ist!). Ego hingegen hat die Möglichkeit darzustellen, über Offenheit und Transparenz und Wahrheit, warum ihn diese Dinge wichtig im Rahmen der Interaktion sind und dadurch Alter von vornherein die Möglichkeit nehmen weiter zu lügen (und jeder kennt die Situation beim Lügen erwischt zu werden und keinen Weg mehr zu finden sich herauszuwinden, ohne dass der Andere weiss, dass man lügt, ne? Wenn dieser Fall gegeben ist, kann man durch die Lüge auch keinen Konflikt mehr vermeiden!). Desweiteren frage ich mich, inwiefern soweit behauptet werden kann, Lügen seien notwendig, wie Du es meinst, Mongo? Naja, machen wir mal weiter im Text.
...Die eigene Handlung wird also in ihrer Bedeutung für den anderen eingeschätzt, dessen Reaktion also - sozusagen "blitzartig" - vorweggenommen und einkalkuliert. Entsprechend gestaltet Ego seine Rolle, bringt also seinen eigenen Identitätsentwurf mit ein, der nicht deckungsgleich sein muss mit dem, was Alter ihm ansinn, Ego "macht" die Rolle: Mead nennt diesen Prozess "role-making". Alter muss entsprechend sich auf dieses role-making von Ego einstellen und seinerseits reagieren. Entweder es kommt zur einverständigen Aushandlung der wechselseitigen Rollen, oder zum Abbruch der Kommunikation....
Bleiben wir wieder stehen. Dem Oben geschriebenen nach, wäre eine Funktionalität von Lügen gegeben (was ich auch nicht abstreite!). Aber: Es wird nicht gesagt, dass man ohne dieses Instrument der Lüge, nicht ein gleiches, oder gar besseres Ergebniss erzielen kann. Dies darf man nicht in Oben geschriebenes hineininterpretieren.
Es sei weiterhin angemerkt (hab keine Lust mehr abzuschreiben
), dass jeder Mensch zur Rollenreflektion fähig ist, also bereits in der Interaktion wahrnehmen kann, ob er sich als Rolemaker, oder als Roletaker in die Interaktion einbindet und kann jederzeit bewusst die Ebene wechseln, so also vom Roletaker zum Rolemaker, wie auch umgekehrt werden. Dies ermöglicht einen auch jederzeit unabhängig von dem, was sich Alter erhofft und versucht zu erwirken, zu distanzieren und einen anderen Kurs in die Interaktion einzubringen. Eine Lüge, die durch Reflektion der Interaktion entdeckt wird (selten, häufiger werden Lügen durch inhaltliche Widersprüche im fortlaufenden Gespräch entlarvt), kann somit gezielt genutzt werden um Alter in das Roletaking zu bringen, bzw. seine Möglichkeiten des Rolemakings einzuschränken. Auch hier sehe ich in keinster WEise, inwiefern Lügen eine unterstützende Funktion in der Interaktion haben sollten, die nciht auch Wahrheit haben kann.
Kursivgedruckter Text: Pädagogisches Grundwissen, 8 Auflage von Herbert Gudjons, Kapitel 6: Sozialisation, Seite 160 ff.
PEACE!!!