Rechtsextreme in sozialen Medien»Die AfD ist ohne rechte Influencer und Multiplikatoren nicht vorstellbar«
Eine Studie der Universität Potsdam zeigt: Die AfD ist auf Social Media mit Abstand die erfolgreichste Partei. Der Sozialstrukturforscher Roland Verwiebe sagt, wie das Playbook der Rechten aussieht und warum Olaf Scholz auf TikTok einpacken kann.
Ein Interview von
Evelin Ruhnow
03.09.2024, 15.48 Uhr
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AfD-Chefin Weidel posiert für ein Selfie: »Das Resultat von zehn Jahren politischer Arbeit auf Social Media«
Foto: Sebastian Kahnert / dpa-Zentralbild / Picture alliance
Zur Person
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Foto: Sandra Scholz / Universität Potsdam
Prof. Dr. Roland Verwiebe, geboren 1971, leitet seit März 2019 den Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. In seiner Studie »Die AfD dominiert TikTok« analysierte er gemeinsam mit seinen Kollegen die Sichtbarkeit der Parteien in den sozialen Medien.
SPIEGEL: Herr Verwiebe,
Ihre Studie belegt, dass die AfD auf
TikTok bei Erstwählerinnen und Erstwählern doppelt so erfolgreich ist wie alle anderen Parteien zusammen. Was ist das Erfolgsrezept der Partei?
Verwiebe: Wir sehen hier nicht den Erfolg des Kalenderjahres 2024, sondern das Resultat von zehn Jahren politischer Arbeit auf
Social Media. Die AfD, aber auch andere rechtspopulistische Parteien und Gruppierungen Europas, machen das schon sehr lange und sehr erfolgreich. Sie bedienen das Playbook der Social-Media-Plattformen inzwischen virtuos. Speziell in
Deutschlandhängen wir ein wenig hinterher, was diese Entwicklung betrifft. Aber die AfD hat die Relevanz von Social Media sehr früh begriffen. Die anderen Parteien und politischen Akteure wachen erst langsam auf. Außerdem haben die AfD und ihre Unterstützer es sehr gut verstanden, die algorithmische Logik von TikTok zu bedienen.
»Es ist schnell, es ist provokativ, es ist einfach zu verstehen.«
SPIEGEL: Wie sieht das Playbook der AfD in den sozialen Medien aus?
Verwiebe: Die AfD ist ohne die rechten Influencer und Multiplikatoren nicht vorstellbar. Der große Erfolg speziell bei jungen Leuten hat auch sehr stark damit zu tun, dass es einen ganzen Ring von Multiplikatoren gibt, die die Verlautbarungen, die Posts, die Videos et cetera von Kandidaten, Kandidatinnen oder der Partei multiplizieren. Das unterscheidet die AfD nach unseren Daten sehr klar von allen anderen Parteien. Außerdem nutzen sie einfache Botschaften, emotionale Texte und erzeugen Spannungsbögen durch Musik – meist aggressive Musik à la Rammstein, Ballermann-Musik oder Après-Ski-Rhythmen. Es ist schnell, es ist provokativ, es ist einfach zu verstehen – und schlichtweg auch Handwerkszeug.
SPIEGEL: In der
Jugendwahlstudie von 2024 heißt es, die Gen Z sei nicht nur »orientierungslos, sondern auch emotional aufgeladen«. Ist Emotionalität ein Schlüsselfaktor im Stimmenfang auf TikTok und anderen sozialen Medien?
Verwiebe: Diese Nutzung von emotionalen Botschaften, die Erzeugung von Emotionalität sehen wir als einen Motor, ein bestimmendes Moment, das speziell die AfD zu nutzen weiß. Aber auch das Bündnis
Sahra Wagenknecht arbeitet so. Bei den anderen Parteien, den etablierten, eher moderaten Parteien dominiert eine sachliche Art des Informierens, das Ansprechen von wichtigen gesellschaftlichen Themen – und das verfängt nicht beim Algorithmus.
SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?
Verwiebe: Wir haben festgestellt, dass vor den Landtagswahlen in den drei Bundesländern, die wir uns angeschaut haben, die AfD am Ende nicht mehr Videos gepostet hat als die anderen Parteien. Die
SPD liegt mit deutlich über 200 Videos vorn. Was die Reichweite angeht, spielt sie aber im Grunde keine Rolle.
SPIEGEL: Bei den Landtagswahlen in
Sachsen und
Thüringen haben mit 38 Prozent die meisten der Erstwählerinnen und Erstwähler die AfD gewählt. Welchen Einfluss haben soziale Medien mittlerweile auf die Wahlergebnisse?
Verwiebe: Die Unter-24-Jährigen informieren sich politisch zur Hälfte ausschließlich oder überwiegend auf TikTok. Das ist eine ziemlich fette Hausnummer. Diese Generation unterscheidet sich mit Blick auf die politische Sozialisation, die Formierung von politischen Einstellungen fundamental von anderen Generationen und das muss man, glaube ich, zur Kenntnis nehmen.
SPIEGEL: Fokussieren sich die renommierten Parteien hierzulande auf die falschen Verbreitungskanäle?
Verwiebe: Das sieht ein Stück weit so aus. Und die Machart passt nicht. Wenn man mit Leuten aus den Verbänden redet, kriegt man ganz klar auch die Aussage: »Wir wissen, wie die AfD es macht, aber so, wie die ihre Inhalte oder Nicht-Inhalte rüberbringen, wollen wir es nicht machen.« Ich verstehe den Ansatz, aber der Algorithmus greift ihn nicht auf. Damit haben sie keine Reichweite. Ich halte das für einen kritischen Fehler.
SPIEGEL: Können SPD und Co. den Rückstand auf TikTok überhaupt wieder aufholen?
Verwiebe: Ich glaube, dass das möglich ist, aber noch mal: Wir sehen zehn Jahre Arbeit von rechtsorientierten Influencern. Die anderen Parteien bräuchten reichweitenstarke Personen, die kann man nicht aus dem Boden stampfen. Dazu braucht es viel Geld. Sie müssten den Ressourcenansatz, den sie haben, verändern.
SPIEGEL: Auch der Bundeskanzler
Olaf Scholz ist auf TikTok vertreten. Tanzen will er dort nicht, stattdessen soll es um seriöse Inhalte gehen. Kann er damit bei jungen Wählern überhaupt punkten oder ist das zu halbherzig?
Verwiebe: Wenn ich unsere Zahlen nehme, ganz nüchtern, kann er sich das schenken. Der kommt nicht an. Und er kommt zehn Jahre zu spät. So einfach ist es. Er hat seine Hausaufgaben nicht gemacht, die Entwicklung der Zeit nicht erkannt. Das ist ein großes Problem, auch für unser Land. Die Demokratie steht auf der Kippe.
Verwiebe: Es gibt gewaltige Unterschiede im gesamten System. Einerseits haben wir diesen sehr stark ausgeprägten Lagerwahlkampf zwischen Republikanern und Demokraten, andererseits ist der Wahlkampf viel stärker auf Personen zugeschnitten.
Barack Obama war 2008 einer der Ersten, der im Wahlkampf gezielt Social Media genutzt hat, um bestimmte Gruppen von Wählerinnen und Wählern zu adressieren. Ohne dieses Vorgehen wäre er nicht Präsident geworden. Sowohl Demokraten als auch Republikaner haben das kopiert.
SPIEGEL: Was können deutsche Politiker und Parteien vom US-Wahlkampf lernen?
Verwiebe: Eine bittere Nachricht wäre: Extrem viel Geld hilft. Aber das ist mit der Parteienfinanzierung in Deutschland aus guten Gründen nicht vereinbar, wie wir wissen. Mit Blick auf unsere Studie würde ich sagen: vernünftig, clever, geschickt die verschiedenen Social-Media-Plattformen bespielen, spezifische Wähler- und Wählerinnengruppen dort abholen, wo sie sind. Der Kanzler sprach mal von einem Kommunikationsproblem. Wir hören jetzt schon seit drei Jahren, dass wir unsere Politik besser verkaufen müssen, über die Tagesschau funktioniert es aber nur noch bedingt.
SPIEGEL: In Ihrer Studie haben Sie auch TikTok-Nutzer aus
Brandenburg erfasst. Was ist mit Blick auf die Erkenntnisse Ihre Prognose für die Wahl am 22. September?
Verwiebe: Also, wenn sich das verstetigt, was wir seit der Europawahl sehen, wird es einen erneuten großen Erfolg der populistischen Parteien geben. Das Land wird sich sehr stark verändern, aus meiner Perspektive nicht zum Guten. Es wäre toll, wenn die großen Parteien endlich aufwachen, wenn sie anfangen würden, ihren tendenziell elitären Politikansatz zu verändern. Sie müssen endlich beginnen, auf den Kanälen, die große Reichweite haben, Politik zu machen.